Heller Rauch steigt auf, vernebelt sein Antlitz und wohl auch Teile seines Denkapparats. Nein, mit dem neuen Papst hat das nichts zu tun. Seine Finger umklammern einen Joint, er nimmt einen weiteren tiefen Zug. Vor uns liegen die leer geschmausten Teller. So richtig leicht ist es mir nicht gefallen, die Einladung zum Essen anzunehmen. Heutzutage ist ja nie ganz klar, wer oder was gefressen werden soll. Ab wann muss man nicht mehr damit rechnen, zerstückelt und gepökelt im Gefrierfach zu enden? Noch aber hat er das Beil nicht ausgepackt. „Lass uns mal fernsehen“. Er trottet auf das Sofa zu.
Er knautscht sich wie ein Mehlsack in das quietschende Leder. Zielstrebig zaubert er mit der Fernbedienung Mike Shiva, den Helden der Zukunftsprognosen, in den Flimmerkasten. „Meine Lieblingssendung, ich lach mich jedesmal schlapp“. Seine Augen glänzen. Ich überlege, selber Shivas Nummer zu wählen, um nachzufragen, wo dieser Abend hinführen soll? Neben mir gluckst und wiehert es unablässig. Ab und an wiederholt er die Worte des Wahrsagers: „Die anderen sind Scharlatane, hua hua“. Mein Blick gleitet über das kahl eingerichtete Wohnzimmer – wo bitte ist die Kamera versteckt?
Die Position des Fernsehers macht es unmöglich, Shiva und den Typen gleichzeitig im Blickfeld zu halten. Ohnehin ist einer so skurril wie der andere. Plötzlich werd ich stutzig. Es hat gar nichts gekichert, die letzte Minute? Ein Blick zur Seite – was zum Henker…? Der Typ ist weg. Eingepennt. Was jetzt? Rütteln und schütteln? Wie das Bäumchen bei Aschenputtel? Shiva voll aufdrehen? Bloss – was will ich mit nem miesmuschligen, verpeilten Mannsbild? Ich schinde Zeit um die Gedanken zu ordnen, spüle erst mal das Geschirr. Vielleicht weckt ihn das Klappern? Eben sackt er ne Handbreite tiefer ins Sofa ab. Ob er wohl wirklich schläft? Vielleicht tut er ja nur so – welch eine Demütigung wäre das?! Meine Gedanken erschrecken mich. „Frau Klinger, jetzt wirst du paranoid“, schimpf ich mit mir. Sein Gesicht ist leicht zur Seite geknickt, wirkt jetzt zerknüllt. Wozu hab ich meine Haare malträtiert, mein Näschen gepudert, ewig vor dem Schrank gestanden? Er streckt einen Fuss von sich. In der Socke klafft ein riesiges Loch. Ich weiss jetzt, was zu tun ist. Setz der Kollegin mal ne Nachricht ab: „Er pennt“. Ne Minute später piept es: „Wie bitte???? Bin im Hive“. Ich mach ne Fliege. Irre durch die Nacht, es ist finster im Industriequartier. Wo nur geht es zum Bahnhof? Plötzlich durchbricht ein Klingeln die Stille. Der Siebenschläfer ist aufgewacht. „Ich bin so ein Arschloch“, jammert er mir ins Ohr.
Zwei Wochen Funkstille. Dann kotzt er mir sein Elend in die Facebook-Mailbox. Es bricht aus ihm heraus, eine wahre Textflut. Beschreibt, wie er sich zudröhnt, um die Freudlosigkeit nicht zu spüren. Abgelöscht, depressiv. Meist will er einfach allein sein. Deswegen habe er sich auch schlafend gestellt. Ehm, moment mal: Schlafend GESTELLT??? Ein wahrer Komiker scheut auch die schrägste Nummer nicht. Schwer, sich nicht clownesk zu fühlen, wenn man zum Kasper solch eines bizarren Schauspiels erkoren wird. Es geht mir da wie vielen, Männern wie Frauen, und auch nicht zum ersten Mal. Meist wird ja einfach die Antwort verweigert. Das Stockfischsyndrom hat epidemische Ausmasse erreicht. Schweigen, die Waffe der Überforderten und kommunikativ Schwachen. Er immerhin erklärt sich. Es hat nichts mit mir zu tun – dass er’s mich wissen lässt, setzt der Scheisse ein Quantum an Grösse entgegen. Ist man dumm, wenn man Menschen ne zweite Chance gibt? Die er freilich verbockt, und bei seinem dritten Anlauf mag auch ich nicht mehr. Wenn einer lebt, als würde er lustlos im Teller rumstochern, ist man nie mehr als ne Erbse, die hin und her geschoben wird. Erbsen kann man zählen oder drauf liegen, aber das Märchen, in dem die Heldin selber ne Hülsenfrucht ist, gibt’s leider nicht.