Archiv für den Monat Juni 2012

„Zum Diktat oder du kriegst eins mit dem Lineal“: Die Brillenstudie.

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Auf der Business-Plattform Xing wirkt manch einer intelligenter, als man ihn vom Alltag her kennt. Warum? Hier trägt man auf dem Foto gern Brille, um den intellektuellen Eindruck zu unterstreichen. Auch ich stehe am Anfang einer altersbedingten Weitsicht, und die damit verbundene optische Steigerung meines Denkvermögens rückt immer näher. Nur – bei Frauen ist die Sache etwas anders. Je nach Brillenmodell wirkt frau damit nicht klüger, sondern mehr wie eine doofe Sekretärin (was nicht heisst, dass Sekretärinnen per se doof sind, gell!). Der Effekt ist offenbar erwünscht, denn genau diese Modelle gibt’s für ein paar Franken täuschend echt zu kaufen, und zwar bei einem bekannten Anbieter von Modeschmuck für kleine Mädchen. Wie ich vor dem Regal stehe, sehe ich meine Chance für einen Selbstversuch gekommen.

„Der Gitarrist“, ächzt Angélique, „ist er nicht einfach Wahnsinn“? Vorne, auf der Bühne des Wipkinger Open-Airs hüpft ein menschlicher Gummiball auf und ab, die lockige Mähne bei jedem Sprung flatternd wie die Ohren von Rowlf, dem Hund, wenn er in der Muppetshow auf die Klaviertastatur einhämmert. Viel mehr kann ich nicht erkennen, denn die Plastikbrille verschleiert meinen Blick. Ich fühle mich bescheuert, jedoch nicht ganz so unterbelichtet wie die Mädels vor mir. Die nämlich tragen Sonnenbrillen – im Dunkeln. Ich werfe einen Blick über den Brillenrand, um den Gitarristen zu studieren, ansonsten bleibt sie auf. Heute Abend interessiert mich nur eine Frage: Kann frau mit so einer dämlichen Brille bei Männern landen? Bis jetzt ist nichts Auffälliges zu beobachten, bis auf einige musternde Blicke und jenen Herrn der mit einem lauten „Pornostyle!“ auf seine Fachkenntnis der einschlägigen Filmlandschaft aufmerksam macht.

Wir beschliessen, die Studie im kleineren Rahmen eines Zürcher Szenelokals fortzusetzen. „Der da, mit dem V-Ausschnitt: Da will ich es versuchen“, frohlocke ich. Fünf Minuten später flirtet er mit einer attraktiven Brunette. Ohne Brille. Wir beschliessen, die Studie auf einer weniger praxisorientierten und mehr wissenschaftlichen Ebene fortzusetzen. „Entschuldige bitte“, Angélique tippt einem jungen Spitzbärtigen auf die Schulter, „wir führen hier eine Studie durch. Was gefällt dir besser: Frau mit oder Frau ohne Brille?“. Der Mann legt seine Stirn in Falten. Ich ziehe das Nasenvelo aus und wieder an. „Nun, es hat schon was“, wiegt er den Kopf hin und her. “Irgendwie streng. Wie eine Lehrerin. Das wirkt auf uns Männer wie auf euch Frauen die Uniform“. „Nein, nein“, verwirft der Nächste, ein stattlicher Südländer, die Hände und rollt mit den Augen „viiiel zu dominant. Ohne ist tausend Mal besser“. „Ist auch eine schwule Meinung gefragt?“. Das hübsche männliche Pärchen ist objektiv: „Beides ist gut. Die Brille wirkt speziell, aber etwas strenger“. Auch weiblichen Gäste diskutieren unterdessen eifrig mit. Eines wird klar: An singende Griechinnen denkt bei der Brille niemand. Auch weniger ans Diktat. Die Assoziation geht eher Richtung Rohrstock, Nachsitzen und Tadel. So oder so – meistens gefällt der  „Special Effect“ – man muss dazu nicht zwingend devot sein.

Der V-Ausschnitt steht neben mir. „Wo ist deine Begleitung?“, will ich wissen. „Ach, weiss auch nicht“, winkt er lapidar ab. „Du, deine Brille ist sooo toll“, haucht er. Würde er selbst eine tragen, sie wäre wohl beschlagen. Bloss, hat er das jetzt wirklich gesagt – kann nicht sein, oder? Bin ich in einer englischen Komödie? Die Sache wird zunehmend skurril und überhaupt – auch die Brille geht mir für heute allmählich auf die Nerven. „Darf ich sie trotzdem abnehmen?“, frage ich, rein rhetorisch versteht sich. „Nein. Darf ich dich küssen?“, fragt er. „NEIN“. Man müsste ihm eins mit dem Lineal zwacken für diese Dreistheit, aber das würde die Sache wohl nicht besser machen. Hilfesuchend werfe ich meinen Blick in die Runde, wo zur Hölle ist bloss Angélique? Und, Moment! Ist der dort drüben nicht der Gitarrist vom Openair? Der Typ von der Berliner Band, der Derwisch, Angéliques Traum ihrer schlaflosen Nächte? „Sorry“, sag ich zu dem Brillenfreund, „da drüben ist ein alter Bekannter, den muss ich jetzt eben mal ansprechen“.

Und was ist jetzt mit der Brille? Sie ist mir beim wilden Umhergespringe mit Angélique und den Jungs und Mädels von der Band vom Kopf gefallen. War nicht mehr zu finden. Wahrscheinlich hat sie einer als Fetisch mitgenommen.

Zwei auf einem Velo.

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Ich wache auf, irgendwo in der Provence. In meinem Bett liegt eine Kreatur mit dünnen Armen und Beinen. Die Gestalt, soviel ist klar, heisst „Ich“. Erst wackelt sie mit dem Zeh, dann klimpern ihre Lider.  „Ich“ sitzt in mir drin und guckt aus mir heraus. Ihr Blick fällt jetzt auf die Spinne. Gestern noch hing jene an der Decke, nun erklimmt sie soeben den Koffer. Bis nach Avignon hat „Ich“ mich verfolgt und ja, es ist ok. Ich könnte mir schlimmere Gesellschaft vorstellen. Seufzend wälze ich mich aus dem Bett, wissend, dass „Ich“ heute mit ihren dünnen Beinen auf dem e-Bike in die Pedale treten muss, und ich ebenfalls.

In Frankreich ist es hilfreich, der französischen Sprache mächtig zu sein. Besonders, wenn sich der Routenbeschrieb der Tour als heiteres Abzweigungsraten entpuppt. Durch endlose Rebberge radle ich, Sonne im Herzen und Freiheit im Haar, dem Horizont entgegen. „An der Einmündung links“, steht da. Links bedeutet bergab. Von unten her keuchen zwei Radfahrer den Berg hinauf, ich glaube sie aus dem Hotel wiederzuerkennen. Sie haben wohl die gleiche Tour gebucht. Der Umstand, dass sie mir entgegenkommen, stimmt mich etwas argwöhnisch, was die von mir gewählte Richtung anbelangt. Und wirklich – am Ende des Berges angekommen, stelle ich fest; nach Chateauneuf geht’s bergauf.

Ich radle mit mir um die Wette, versuche, mich hinter mir zu lassen. Vorbei an duftendem Raps, raschelndem Schilf und leuchtendem Mohn. Einsame Landschaften, keine Menschenseele bis zur nächsten Ortschaft, bis zum nächsten Schloss. Mücken entlang der Flüsse, dieser freche Vogel auf dem Rücken des Pferdes: zweimal narrt er mich und flattert davon, sowie ich die Kamera zücke. Unerwartete Verzweigungen, Wege ohne Namen: Zum Glück findet sich ab und an ein Jogger, Bauarbeiter oder ein Einheimischer im Ort, um mir den kraft meiner Intuition gewählten Weg zu bestätigen.

Der meistgehörte Satz ist „Vous êtes courageuse“. Das denke ich mir auch jeden Morgen, bevor ich in den Spiegel sehe, doch in diesem Kontext halte ich die Aussage für etwas übertrieben – ich bin ja nicht im Irak? Die Blicke im Restaurant amüsieren mich. Eine Frau, alleine am Tisch : Das scheint viele Fragen aufzuwerfen. Neugieriges Getuschel. Auf dem Rad, da geht’s mir gut, aber am Ende des Tages kann ich nichts teilen, ausser meine Gedanken, treu wie Flöhe, mit mir selbst. So eine Reise allein ist wie ein Rückzug in einen Kokon. Perfekt für eine Introspektive – sofern du nicht längst drin bist und eigentlich den Ausgang suchst.

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Schnitzeljagd auf französisch.

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Es ist still im Zug. Nur der Geruch von Käsefüssen hängt weiter in der Luft. Ich lege mein Buch beiseite, mein Blick streift beiläufig die Abfahrtstafel. Augenscheinlich fährt der Zug, in welchem ich sitze, ab Gleis „Car“. Car? Als hätte ich eben in eine Steckdose gegriffen, erschliesst sich mir schlagartig der Sinn der vom Zugbegleiter genuschelten Worte. Darum haben sich alle Mitreisenden ins unscheinbare Chambery ergossen. Jetzt hechte auch ich aus dem Zug. „Le bus?“, werfe ich in die Runde, und eine Gruppe älterer Herren deutet nach links. „A gauche“, nicken sie, und so renne ich wie Chocolate, das Huhn, mit Koffer bald nach links, bald nach rechts: Sackgasse – ich war eins zu früh.

Der Bus blinkt, zur Abfahrt bereit, ich werfe meinen Koffer hinein und mich hinterher. Ob der Bus rechtzeitig in Vallence-Ville eintreffe, will ich wissen: ich muss nämlich mit dem TGV weiter nach Orange. „Aaah oui, bien sur! Le TGV à Marseille“. Ich bin beruhigt, ein bisschen wenigstens. Gewisse Zweifel bleiben. Ob ein Bus gleich schnell sein kann wie ein TGV? Nun ja. Französischer Fahrstil vielleicht?

Ich kann mein Glück kaum fassen, wie wir sogar früher in Vallence TGV eintreffen und hüpfe fröhlich dem Perron entgegen. Blöd nur – mein Zug ist nirgends vermerkt. Hinter einer Glasscheibe sitzt ein Mann mit Mütze. Er weiss, dass die von mir begehrte Verbindung in wenigen Minuten startet – an einem anderen Bahnhof. Wohin freilich wiederum ein Zug fährt, bloss gerät nun alles durcheinander. Eine Französin spricht mich an – auch sie ist hier gestrandet. Ich bin froh, eine Gefährtin im Bahnhofs- und Umsteigedschungel gefunden zu haben. Seit zwei Monaten sei die Streckenblockierung bekannt.  Es bräuchte dann theoretisch nur noch ein gewisses Mass an Informatik und irgendeinen, der besagte Änderung in seine Tastatur eintöggelt. „Il faut composter le billet“, sagt sie, und ich weiss nicht, wozu man das Billett hier kompostieren muss, meines brauch ich jedenfalls noch.

Eine Woche später. Merkwürdiges geht in mir vor. Am Vorabend mit 38 Grad im Fieber erglüht, waren’s am Morgen noch 34.9 Grad. Ich bin also völlig cool, steige so einmal mehr in den Zug und will nur eins: heim. Ich wähne mich in Sicherheit: Dieses Mal wird eine andere Route gefahren. Trotzdem schwant mir Übles, wie in Grenoble alles zur Tür hinaus strömt: „Le train ne continue pas?“. „Non“. Meine 34.9 steigern sich auf gefühlte 90 Grad. Ich stürze auf einen Zugbegleiter zu, bereit, ihn am Kragen zu packen und notfalls auch zu würgen. „Vous devez prendre l’Autocar“, meint er. Ich könnte schreien. Toben. Eine Handgranate zünden. Statt dessen irre ich von dannen, auf der Suche nach diesem verfluchten Autocar, der ja auch nirgends angeschrieben steht, und den ich rein kraft meiner Intuition finde. Vor dem Bus steht unscheinbar ein Tischchen, man weiss nicht, werden hier Mitgliedschaften bei Weltbild, Scientology oder dem WWF erteilt, oder allenfalls doch brauchbare Auskünfte. Eine junge Frau kaut gelangweilt auf ihren Chips herum. „Genève?“ Lethargisch blättert sie in ihren Dokumenten und kaut weiter. „Vier Stunden später“, lässt sie mich wissen, und für einen kurzen Augenblick überlege ich, meine Faust auf ihre Chipstüte niedersausen zu lassen. Zurück zum Profi: Die Hoffnung, der hübsche Bursche am offiziellen Schalter wüsste ne schnellere Verbindung, verflüchtigt sich. Fünf mal umsteigen, macht dann insgesamt 11 Stunden für die Strecke Orange – Zürich. Die Odyssee schreibt er auf einen Fresszettel – Drucker haben die da nicht. Immerhin, der attraktive Mann rennt mir hinterher – ich habe in der Wut mein Billett liegengelassen. Mein Fazit:  Nächste Mal fliege ich lieber auf die Malediven: Zürich – Male. Direktflug, in 9 Stunden biste da.