Auf der Business-Plattform Xing wirkt manch einer intelligenter, als man ihn vom Alltag her kennt. Warum? Hier trägt man auf dem Foto gern Brille, um den intellektuellen Eindruck zu unterstreichen. Auch ich stehe am Anfang einer altersbedingten Weitsicht, und die damit verbundene optische Steigerung meines Denkvermögens rückt immer näher. Nur – bei Frauen ist die Sache etwas anders. Je nach Brillenmodell wirkt frau damit nicht klüger, sondern mehr wie eine doofe Sekretärin (was nicht heisst, dass Sekretärinnen per se doof sind, gell!). Der Effekt ist offenbar erwünscht, denn genau diese Modelle gibt’s für ein paar Franken täuschend echt zu kaufen, und zwar bei einem bekannten Anbieter von Modeschmuck für kleine Mädchen. Wie ich vor dem Regal stehe, sehe ich meine Chance für einen Selbstversuch gekommen.
„Der Gitarrist“, ächzt Angélique, „ist er nicht einfach Wahnsinn“? Vorne, auf der Bühne des Wipkinger Open-Airs hüpft ein menschlicher Gummiball auf und ab, die lockige Mähne bei jedem Sprung flatternd wie die Ohren von Rowlf, dem Hund, wenn er in der Muppetshow auf die Klaviertastatur einhämmert. Viel mehr kann ich nicht erkennen, denn die Plastikbrille verschleiert meinen Blick. Ich fühle mich bescheuert, jedoch nicht ganz so unterbelichtet wie die Mädels vor mir. Die nämlich tragen Sonnenbrillen – im Dunkeln. Ich werfe einen Blick über den Brillenrand, um den Gitarristen zu studieren, ansonsten bleibt sie auf. Heute Abend interessiert mich nur eine Frage: Kann frau mit so einer dämlichen Brille bei Männern landen? Bis jetzt ist nichts Auffälliges zu beobachten, bis auf einige musternde Blicke und jenen Herrn der mit einem lauten „Pornostyle!“ auf seine Fachkenntnis der einschlägigen Filmlandschaft aufmerksam macht.
Wir beschliessen, die Studie im kleineren Rahmen eines Zürcher Szenelokals fortzusetzen. „Der da, mit dem V-Ausschnitt: Da will ich es versuchen“, frohlocke ich. Fünf Minuten später flirtet er mit einer attraktiven Brunette. Ohne Brille. Wir beschliessen, die Studie auf einer weniger praxisorientierten und mehr wissenschaftlichen Ebene fortzusetzen. „Entschuldige bitte“, Angélique tippt einem jungen Spitzbärtigen auf die Schulter, „wir führen hier eine Studie durch. Was gefällt dir besser: Frau mit oder Frau ohne Brille?“. Der Mann legt seine Stirn in Falten. Ich ziehe das Nasenvelo aus und wieder an. „Nun, es hat schon was“, wiegt er den Kopf hin und her. “Irgendwie streng. Wie eine Lehrerin. Das wirkt auf uns Männer wie auf euch Frauen die Uniform“. „Nein, nein“, verwirft der Nächste, ein stattlicher Südländer, die Hände und rollt mit den Augen „viiiel zu dominant. Ohne ist tausend Mal besser“. „Ist auch eine schwule Meinung gefragt?“. Das hübsche männliche Pärchen ist objektiv: „Beides ist gut. Die Brille wirkt speziell, aber etwas strenger“. Auch weiblichen Gäste diskutieren unterdessen eifrig mit. Eines wird klar: An singende Griechinnen denkt bei der Brille niemand. Auch weniger ans Diktat. Die Assoziation geht eher Richtung Rohrstock, Nachsitzen und Tadel. So oder so – meistens gefällt der „Special Effect“ – man muss dazu nicht zwingend devot sein.
Der V-Ausschnitt steht neben mir. „Wo ist deine Begleitung?“, will ich wissen. „Ach, weiss auch nicht“, winkt er lapidar ab. „Du, deine Brille ist sooo toll“, haucht er. Würde er selbst eine tragen, sie wäre wohl beschlagen. Bloss, hat er das jetzt wirklich gesagt – kann nicht sein, oder? Bin ich in einer englischen Komödie? Die Sache wird zunehmend skurril und überhaupt – auch die Brille geht mir für heute allmählich auf die Nerven. „Darf ich sie trotzdem abnehmen?“, frage ich, rein rhetorisch versteht sich. „Nein. Darf ich dich küssen?“, fragt er. „NEIN“. Man müsste ihm eins mit dem Lineal zwacken für diese Dreistheit, aber das würde die Sache wohl nicht besser machen. Hilfesuchend werfe ich meinen Blick in die Runde, wo zur Hölle ist bloss Angélique? Und, Moment! Ist der dort drüben nicht der Gitarrist vom Openair? Der Typ von der Berliner Band, der Derwisch, Angéliques Traum ihrer schlaflosen Nächte? „Sorry“, sag ich zu dem Brillenfreund, „da drüben ist ein alter Bekannter, den muss ich jetzt eben mal ansprechen“.
Und was ist jetzt mit der Brille? Sie ist mir beim wilden Umhergespringe mit Angélique und den Jungs und Mädels von der Band vom Kopf gefallen. War nicht mehr zu finden. Wahrscheinlich hat sie einer als Fetisch mitgenommen.