Kehlkopfentzündung im ÖV

Standard
Kehlkopfentzündung im ÖV

Die Schweizer horten ihr Gold nicht auf der Bank, sondern im Mund. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, heisst es. Das ist eine ernstzunehmende Angelegenheit. Anscheinend. Unlängst jedenfalls monierte die Kolumnistin einer Schweizer Boulevard-Gratiszeitung (ist das ein Pleonasmus?), ihrer Freundin sei gar Schröckliches widerfahren. Sie habe sich im ÖV, auf dem Fensterplatz sitzend, über die Banknachbarin hinweg verrenkt, um den Türknopf zu drücken. Daraufhin habe diese – man will es kaum glauben – gefragt: „Müend sie use?“. Wuhuuuu.

Dieses Ungemach lässt in mir wieder mal eine oft gestellte Frage aufkeimen: Kann es sein, dass die Mehrheit der SchweizerInnen heutzutage an einer chronischen Kehlkopfentzündung oder allenfalls an einer Kiefersperre leidet, die das Sprechen erschwert? Besteht vielleicht die Angst, der Output von Buchstaben aus dem Sprechapparat werde nach Kilobyte abgerechnet? Eine Marktlücke – Flatrate fürs Sprechen. Oder ist es frei nach Mani Matter „will sie Hemmige hei“? Anders ist für mich das fassungslose Entsetzen nicht zu erklären, das mir entgegenschwappt, wenn ich ein Zugabteil mit dem Wort „Grüezi“ betrete. Huh! Es spricht! Auch habe ich schon Blogbeiträge von Leuten gelesen, die ihr Grauen schilderten, welches sie erfasst, wenn ein älterer Mensch das Wort an sie richtet. Die Alten wollen dann erzählen, das weiss man ja. Und dann müsste man sich am Ende der vielleicht durchaus interessanten Geschichte eines Individuums mit Lebenserfahrung zuwenden. Oder – Gott bewahre – einem einsamen Menschen zu zwei, drei Minuten Kontakt verhelfen. Dabei könnte einem im eben noch konsumierten Käseblatt glatt die Nachricht von Kim Kardashians Dellen am Arsch entgehen. Schlimm. Ganz schlimm.

„Gesundheit“ darf man auch nicht mehr sagen, da hat der gute Herr Knigge der lästigen Wünscherei ein Ende gesetzt. Und wehe, jemand stellt die saublöde Frage „Ist hier noch frei?“. Es ist unhöflich, höflich zu sein. Der Mensch im ÖV soll seine Existenz gnädigst nach bestem Wissen und Gewissen eindämmen: Wenn er sich schon nicht unsichtbar machen kann, dann soll er bitte wenigstens schweigen und seine Blicke an einem nicht-menschlichen Objekt fixieren. By the way – nicht nur im ÖV. Frag mal jemanden an der Kasse hinter dir, ob er vorrücken möchte, weil er oder sie ja nur so wenig hat, während du einen ganzen Wägeli-Inhalt auf das Rollband stapelst. Die meisten schütteln völlig überrumpelt den Kopf. Sorry Leute, was läuft mit euch?

Für mich ist es jedenfalls schwer nachvollziehbar, dass es Menschen gibt, die sich lieber akrobatisch verrenken, anstatt zu sagen: „Äxgüsi, ich muss raus – könnten Sie vielleicht drücken?“. Nein, sie brennen dir mit ihren Blicken lieber Löcher in die Schläfe oder rammen dir während ihrer Akrobatikeinlage den Ellbogen gegen die Nase, auf dass du ihre Absichten gefälligst konversationsfrei erahnen mögest. „Äxgüsi“ – nur im äussersten Notfall – ist zu einem heiseren Grunzen verkommen. Wenn wir so weitermachen, sind uns die Bonobos am Ende an Sozialkompetenzen überlegen. Möglicherweise war die Frage „Müend Sie use?“ durchaus süffisant gemeint.  Also: Wann gibt’s endlich Schleudersitze für kommunikationsgehemmte Fenstersitzer?

 

Die Kolumne und die Antwort im Original.

https://www.blickamabend.ch/kolumnen/abgefahren/wer-wird-millionaer-id6597434.html

https://www.blickamabend.ch/kolumnen/abgefahren/kiefersperre-id6613666.html

PS: Sollte Katja Walder je im Migros hinter mir stehen, ich lass sie vor. Selbst wenn ich nur ein Vanille-Glacé habe, und sie ein ganzes Wägeli voll. Promised!

Hinterlasse einen Kommentar