Archiv für den Monat September 2012

Smalltalk oder „Wie alt bist du?“

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Schweigend sitzen wir nebeneinander. Die junge Bewegungstherapeutin weiss nichts mit mir anzufangen, das ist so klar wie ein Gebirgsbach. Sie scheint aber auch nicht der Typ Frau zu sein, die das so stehen lassen kann. Mehr so „Ich-bin-total-locker-und-kann-mit-allen“. Keine Ahnung, wie lange sie nach einem Gesprächsthema gesucht haben muss, während sie hier am Mittagstisch in ihrem Müsli stocherte. Plötzlich kommt’s: „Hast du dir eigentlich deine Lippen machen lassen?“. „Neiiin, ich bin bloss dick geschminkt. Und du, hast du dein Gesicht von Natur aus?“. Es ist nicht das erste Mal, dass eine Frau aus dem therapeutischen Bereich an meiner Fassade hängen bleibt. Gerade dieser Berufsgattung nehme ich so wenig Tiefgang besonders übel.  

In den meisten Menschen steckt ja ein kleiner Zöllner. Die gehen erst mal den Pass durch. „Wie heisst du?“, „Bist du Schweizerin?“ und „Ich weiss, man fragt das nicht, aber wie alt bist du?“ Ob es wohl Frauen gibt, die schon mal mit „Ich weiss, man fragt das nicht, aber wie hoch ist dein Nettoeinkommen?“ in ein Gespräch einsteigen? Gebe ich Auskunft, folgt eine halbstündige Diskussion, wieso ich noch nicht aussehe wie Stallones Mutter und – falls das Gespräch unter Tanzenden stattfindet – wie es kommt, dass ich mich mit bald 42 überhaupt noch bewegen kann und nicht wenigstens den Rollator vor mir herschiebe. Da hängen sie einen mit 94 ohne zu zögern an lebenserhaltende Apparate, wundern sich aber, dass man in der Lebensmitte nicht wie die Altvordern seine müden Gebeine aufs Sofa bettet, um sie fortan zu schonen, ehe sie von alleine auseinanderbrechen. „Aus dem Alter bin ich raus“, erklärt manch ein Zeitgenosse mit stolzgeschwellter Brust, und es scheinen nicht wenige so zu denken: Geht mal in einen Zumba-Kurs und schaut euch den Altersdurchschnitt an. „Da bin ich zu alt“: Das schützte auch meine Grossmutter vor, als ich versuchte, ihr den Gebrauch eines Handys schmackhaft zu machen. Viele Menschen wagen sich im Alter ja kaum noch aus dem Haus. Kein Wunder: Egal, um welche Fertigkeit es sich handelt – was nicht gebraucht wird, baut ab. Egal obs ums Denken, ums Tanzen, Muskeln und Ausdauer generell oder auch um den Mut geht, etwas Neues zu wagen. Man sollte nie aus dem Alter raus sein, sich für etwas noch Unbekanntes zu interessieren und zu tun, was einen Spass macht,

Was keinen Spass macht ist, fortwährend die selbe Frage zu beantworten, die meist nur darauf abzielt, dich in eine Schublade zu stecken. Wenn du nicht reinpasst, fangen sie an, drin rumzuwühlen, als müsste man bloss eine rausragende Socke richten, ehe sie aufhört zu klemmen. Beantwortest du die Frage nicht, hast du ein Problem mit deinem Alter – zack, neue Schublade! Auch wenn es rund um die Altersfrage Komplimente regnet, und ja, ich mag gerne Komplimente hören, aber ein längeres Gespräch über optische Merkmale? Ich habe Augen im Kopf und Spiegel zu Hause! Manche Menschen haben sich der Mühsal des Smalltalks gänzlich entzogen – die fragen einfach gar nichts. Und ich selber? Den Gesprächspartner über Dinge berichten lassen, die er mag, kommt immer gut. Wo er das letzte Mal in den Ferien war, was er in seiner Freizeit macht. So richtig aber liebe ich es, wenn es ohne Umweg direkt in die Tiefe geht. Einmal hat mich einer gefragt, ob ich an ein Leben nach dem Tod glaube. Gleich nachdem er wissen wollte, wofür es sich für mich lohnt, morgens aufzustehen. Das Resultat: Gespräche bis in die frühen Morgenstunden. Spätestens da habe ich mich in ihn verliebt.

Nahkampf auf Augenhöhe

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Das Gesicht wie ein Streuselkuchen, knabenhafte Kurzhaarfrisur. Klobiges Schuhwerk mit Einlagen war damals auch nicht en vogue. Ich pflegte mich gern im Keller umzuziehen – stressig! – und der Auftritt im Cindy Lauper-Style war wohl übers Ziel hinausgeschossen. Meine Mutter fand es jedenfalls nicht chic, als sie mich so im Hausflur erwischte. Nein, ein Schwan war ich nicht, mehr ein Entlein, und so fühlte ich mich auch. Oft glaubte ich, die Blicke fremder Leute auf mir zu spüren, weil ich so „e Wüeschti“ bin. Mit Witz und Geist das optische Unheil auszugleichen vermochte ich nicht; wann immer ich den Mund öffnete, fürchtete ich, ein Schwall Kröten oder andere Widrigkeiten könnten mir entweichen. Wenn ich mich heute unzulänglich fühle neben einem Menschen, der mich flasht, denkt manch einer meiner Freunde, ich hätt nen Knacks. Damals aber musterte mich meine Freundin auf die Frage, ob ich wohl bei dem süssen Typen aus der Parallelklasse ne Chance haben könnte, schon mal ausgiebig von oben bis unten und meinte dann: „So? Sicher nicht.“

Seit kurzem bieten die Zürcher Verkehrsbetriebe online eine Art Kontaktbörse an. Wer sich unterwegs gesehen hat und nicht wagt, seine Visitenkarte zu zücken, „bitte sehr, meine Nummer: Ruf! mich! an!“, kriegt hier eine zweite Chance. Ob denn die Zürcher so schüchtern seien, fragten die Medien. Schüchtern? Jene, die da in die Tasten hauen, sind die wahren Helden! Der meistgelesene Satz in den Inseraten heisst nämlich „Wir haben uns angelächelt“. Wieviele Leute seht ihr morgens im ÖV lächeln? Eben. Ich selber neige mit steigender Attraktivität des Gegenübers dazu, erst mal intensiv meine Schuhe zu mustern (wahrscheinlich kaufen Frauen deshalb so oft neue Schuhe). Trotzdem fasse ich mir ab und an ein Herz, denn natürlich glaube ich heutzutage nicht mehr, dass mich die Menschen beäugen, weil ich ein garstiger Gnom sei. Obwohl – seit ich mir vor einigen Tagen ein Piercing habe stechen lassen, scheinen die Blicke Mitreisender vermehrt an mir kleben zu bleiben. Es mag an meiner geschwollenen Oberlippe liegen, die wie ein blassrotes Gummiboot à la Ohoven unter meiner Nase quillt. Wenn es so weitergeht, kann ich die Hauptrolle in „Planet der Affen“ spielen, oder allenfalls geh ich als weiblicher Gremlin durch.

Neulich sitz ich also im Tram, und eh ich mich versehe, versinke ich in einem Augenpaar, blau wie ein Bergsee im Sonnenschein. Dazu die Haare, Weizenfeld bei Sturm, ein Naturereignis sozusagen. Der Typ, etwa 4 Sitzplätze quer durchs Fahrzeug von mir entfernt, guckt zurück, guckt wieder weg. Ich auch. Ich gucke wieder, er auch. Ich muss grinsen. Was jetzt? Winken? Aufstehen und mich – „sorry, an meinem Sitzplatz werd ich geblendet, darf ich mal…“ – neben ihn setzen? Jetzt zieh ich erst mal die Kopfhörer aus meinen Ohren und rüste mich zum Nahkampf. Wild entschlossen bin ich, ihm mein schönstes Lächeln zu schenken, Kukident, nein was war’s, Perlweiss, aber äh, hey!! Der steht schon an der Tür, was soll denn das?? Er kann doch jetzt nicht aussteigen, das ist doch viel zu früüüüh! Himmel! Ein letzter Blick, er geht vorbei und entschwindet in den Winkeln und Strassen des Locherguts.

Ein Fall für „Gesehen@VBZ“, soviel ist klar. Gleich am Abend will ich meine Nachricht eintippen. Doch vorher treff ich Leyla auf nen Drink. Es ist Sommer, die Sonne scheint. Ideal für einen Schwatz an einem lauschigen Plätzchen. Der Kies auf dem Idaplatz knirscht unter unseren Füssen. „Schau mal wie der guckt“, sagt Leyla. Auf dem Sitzbänkchen im Schatten der Bäume heftet ein Weizenfeld seinen erschrockenen Blick auf mich, auf der Stirn in fetten Lettern „Scheisse…!!“. Seine linke Hand krault eben den Nacken seiner Freundin. Manchmal klärt sich die Lage auch ohne Annonce.

http://www.gesehenatvbz.ch

http://www.rts.ch/video/info/journal-12h45/4222954-les-transports-publics-zurichois-se-transforment-en-agence-de-rencontre.html

Der guten Ordnung halber: Das ist mein privater Blog und ich gebe hier meine private Meinung wieder. Mein Arbeitgeber kann nichts dafür :-).

Leicht versch(r)oben.

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Hopp in den 2er, in ner halben Stunde startet das Einführungsseminar in Tanz- und Bewegungstherapie. Ich bin spät dran und im emotionalen Ausnahmezustand. Ok, letzteres sind nicht wirklich Breaking News. So geht’s mir ab und an, übrigens immer der gleichen Geschichte wegen, man nennt das „Kontinuität“ – aber keine Bange, das soll hier keine Schreibtherapie werden.

Wann immer ich neben mir stehe, geschehen merkwürdige Dinge. Es scheint, als zögen skurille Naturelle das Obskure magnetisch an?! Eben beschliesst mein Handy spontan, einen kleinen Schwatz mit meiner Mutter aufzugleisen. Bin ich auf die Taste gekommen? Nein – sobald ich den funknagelneuen Kopfhörer in die Buchse stecke, dauert es vielleicht 15 Sekunden, ehe die Musik abbricht und mein HTC die Nummer meiner Mutter wählt. Ich lass es dann auch mal klingeln, um sicherzugehen, ob sie noch lebt, oder ob ich hier Zeuge eines paranormalen Phänomens werde. Sie ist wohlauf. Wir reden ein paar Worte, ich hänge auf – munter zeigt mein Handy sofort wieder das grüne Anrufsymbol, noch etwa zehn Mal, bis ich das Ding ganz einfach ausschalte.

Ich steige in den Bus der Linie 32. Er ist proppenvoll (es scheint, die Strecke ist wirklich reif für die neuen Doppelgelenktrolleybusse ist, die hier bald fahren). „Bitte gehen Sie von der Türe weg, ich kann sonst nicht weiterfahren“, meldet der Chauffeur. Immer mehr Leute zwängen sich in den Bus. „Piiiiep, piiiiep“. Die Türen flattern auf und zu wie Fledermäuse, die man ins Licht taucht. Es dauert eine Weile, bis sie endlich zuschnappen und sich das Schauspiel an der nächsten Haltestelle wiederholen kann. „Der nächste Bus kommt bald, es lohnt sich zu warten“, fleht der Fahrer. Vergebens. Die Leute bohren sich in den Bus. „So, ihr chönd mal ufschlüsse, da hätts no Platz“, bellt eine ältere Frau und pflügt sich wie eine Dampfwalze durch die Menge. „De gahsch halt dure“, giftelt eine Andere, das tizianrote Haar schüttelnd, „aber hör uf speutze!“. Wir sind unterwegs zur Militär-/Langstrasse. Eben sehe ich draussen den mit dem V-Ausschnitt vorbei gehen, zum fünften Mal seit ich ihn kürzlicj in meinem Blog erwähnte. Er erscheint mir meistens, wenn ich grad im Roten drehe. Ist er real? Oder verliere ich allmählich den Verstand? Der Buschauffeur bemüht sich einmal mehr, die Türe zu schliessen. „Es isch nöd s’Schaf, es isch de Hund – er lehnt z’wyt füre“. Auf dem vordersten Sitz hält ein Paar seinen kecken Dackel, der neugierig über der Haltestange zappelt. Aber wo ist das Schaf? Die Dampfwalze von vorhin muss aussteigen. „Ah jetzt wottsch wieder use“, freut sich die Tizianrote, „aber jetzt chasch warte“. Die Dampfwalze spitzt ihre Ellbogen, holt Anlauf, der Hund bellt, „ja gang, du blödi Chue“ poltert der Rotschopf, die Masse wird nach draussen gedrückt wie Senf, wenn man auf die Tube steht. Jetzt sehe ich auch das Schaf, es ist ein Hocker mit flauschigem Wollbezug.

Limmatplatz. Ich bin zu spät, das Seminar hat vor 5 Minuten begonnen. Dachte ich jedenfalls, leider ist kein Schwein da. Ich bin im falschen Gebäude, hier sind die Maltherapeuten – die Tanztherapeuten sind beim Bahnhof vorne. Das Schreibzeugs hab ich auch vergessen. Trotzdem bin ich dann irgendwann noch angekommen. Und die Stimmung? Wir haben im Seminar gestampft und gebrüllt, aus Leibeskräften. Hammer. Wenn jemand eine Stampf- und Schrei-Therapie-Gruppe gründen will, ich bin dabei.