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Nahkampf auf Augenhöhe

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Das Gesicht wie ein Streuselkuchen, knabenhafte Kurzhaarfrisur. Klobiges Schuhwerk mit Einlagen war damals auch nicht en vogue. Ich pflegte mich gern im Keller umzuziehen – stressig! – und der Auftritt im Cindy Lauper-Style war wohl übers Ziel hinausgeschossen. Meine Mutter fand es jedenfalls nicht chic, als sie mich so im Hausflur erwischte. Nein, ein Schwan war ich nicht, mehr ein Entlein, und so fühlte ich mich auch. Oft glaubte ich, die Blicke fremder Leute auf mir zu spüren, weil ich so „e Wüeschti“ bin. Mit Witz und Geist das optische Unheil auszugleichen vermochte ich nicht; wann immer ich den Mund öffnete, fürchtete ich, ein Schwall Kröten oder andere Widrigkeiten könnten mir entweichen. Wenn ich mich heute unzulänglich fühle neben einem Menschen, der mich flasht, denkt manch einer meiner Freunde, ich hätt nen Knacks. Damals aber musterte mich meine Freundin auf die Frage, ob ich wohl bei dem süssen Typen aus der Parallelklasse ne Chance haben könnte, schon mal ausgiebig von oben bis unten und meinte dann: „So? Sicher nicht.“

Seit kurzem bieten die Zürcher Verkehrsbetriebe online eine Art Kontaktbörse an. Wer sich unterwegs gesehen hat und nicht wagt, seine Visitenkarte zu zücken, „bitte sehr, meine Nummer: Ruf! mich! an!“, kriegt hier eine zweite Chance. Ob denn die Zürcher so schüchtern seien, fragten die Medien. Schüchtern? Jene, die da in die Tasten hauen, sind die wahren Helden! Der meistgelesene Satz in den Inseraten heisst nämlich „Wir haben uns angelächelt“. Wieviele Leute seht ihr morgens im ÖV lächeln? Eben. Ich selber neige mit steigender Attraktivität des Gegenübers dazu, erst mal intensiv meine Schuhe zu mustern (wahrscheinlich kaufen Frauen deshalb so oft neue Schuhe). Trotzdem fasse ich mir ab und an ein Herz, denn natürlich glaube ich heutzutage nicht mehr, dass mich die Menschen beäugen, weil ich ein garstiger Gnom sei. Obwohl – seit ich mir vor einigen Tagen ein Piercing habe stechen lassen, scheinen die Blicke Mitreisender vermehrt an mir kleben zu bleiben. Es mag an meiner geschwollenen Oberlippe liegen, die wie ein blassrotes Gummiboot à la Ohoven unter meiner Nase quillt. Wenn es so weitergeht, kann ich die Hauptrolle in „Planet der Affen“ spielen, oder allenfalls geh ich als weiblicher Gremlin durch.

Neulich sitz ich also im Tram, und eh ich mich versehe, versinke ich in einem Augenpaar, blau wie ein Bergsee im Sonnenschein. Dazu die Haare, Weizenfeld bei Sturm, ein Naturereignis sozusagen. Der Typ, etwa 4 Sitzplätze quer durchs Fahrzeug von mir entfernt, guckt zurück, guckt wieder weg. Ich auch. Ich gucke wieder, er auch. Ich muss grinsen. Was jetzt? Winken? Aufstehen und mich – „sorry, an meinem Sitzplatz werd ich geblendet, darf ich mal…“ – neben ihn setzen? Jetzt zieh ich erst mal die Kopfhörer aus meinen Ohren und rüste mich zum Nahkampf. Wild entschlossen bin ich, ihm mein schönstes Lächeln zu schenken, Kukident, nein was war’s, Perlweiss, aber äh, hey!! Der steht schon an der Tür, was soll denn das?? Er kann doch jetzt nicht aussteigen, das ist doch viel zu früüüüh! Himmel! Ein letzter Blick, er geht vorbei und entschwindet in den Winkeln und Strassen des Locherguts.

Ein Fall für „Gesehen@VBZ“, soviel ist klar. Gleich am Abend will ich meine Nachricht eintippen. Doch vorher treff ich Leyla auf nen Drink. Es ist Sommer, die Sonne scheint. Ideal für einen Schwatz an einem lauschigen Plätzchen. Der Kies auf dem Idaplatz knirscht unter unseren Füssen. „Schau mal wie der guckt“, sagt Leyla. Auf dem Sitzbänkchen im Schatten der Bäume heftet ein Weizenfeld seinen erschrockenen Blick auf mich, auf der Stirn in fetten Lettern „Scheisse…!!“. Seine linke Hand krault eben den Nacken seiner Freundin. Manchmal klärt sich die Lage auch ohne Annonce.

http://www.gesehenatvbz.ch

http://www.rts.ch/video/info/journal-12h45/4222954-les-transports-publics-zurichois-se-transforment-en-agence-de-rencontre.html

Der guten Ordnung halber: Das ist mein privater Blog und ich gebe hier meine private Meinung wieder. Mein Arbeitgeber kann nichts dafür :-).