Archiv der Kategorie: Ausgehen

It’s Destiny’s Path.

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208Aus Italien, Österreich und Frankreich sind sie angereist, für eine Nacht. Ärzte, Coiffeusen, Bauführer, Verkäufer, Juristinnen, Informatiker, Rechte und Linke, die sich freuen, einander zu sehen um das Verbindende zu zelebrieren. Sie reihen sich geduldig ein, die Schlange dehnt sich aus zu einem breiten Menschenstrom. Bei Wind und Wetter harren sie aus, oft über eine Stunde, bis es an quadratischen Türstehern und –steherinnen vorbei ins vibrierend-wummernde Innere geht. Ein paar Stunden die Gedanken abschütteln, bis zum Morgengrauen, meistens auch länger. Dem Alltag entfliehen und eintauchen in sphärische Klänge, harte Bässe, bis sich der Körper von selbst bewegt, als würde er von einer höheren Macht gelenkt. Viele der Protagonisten hat man schon hundert Mal gesehen, nickt sich zu: „Wie geht’s?“, „Danke, dir?“ und dann wird getanzt. Jeder für sich und doch alle zusammen. Dekorativ platzierte Mädchen in hohen Stöckelschuhen sieht man hier kaum, cool am Tresen lehnende Jungs auch nicht. Die Liebe zum Rhythmus steht im Vordergrund, nicht das Sehen und Gesehen werden. Ohnehin bleiben viele der Augen geschlossen, um ganz im Klang aufzugehen. Die Zusammengehörigkeit wird durch das Andersartige demonstriert, tief-düster, schrill-bunt. Manche Gäste leuchten und blinken im finsteren Raum, auf dessen Nebelschwaden sich bunte Lichtkompositionen abzeichnen. Wenn der Junge, der sich ausschliesslich per Mundsteuerung fortzubewegen vermag, seinen Rollstuhl zum Tanze vor und zurück schnellen lässt, machen alle Platz. Für die übrigen zählt die ausgefeilte Beintechnik. Nicht immer nur elegant; egal – hier darf man sein. Ab und an durchbricht ein Freudenschrei aus hundert Kehlen die Melodie. Ein Klassiker wird gespielt, tausend Mal gehört, wirft nostalgische Gefühle auf. Man will das hören, immer wieder.

An eben jenem Ort trat er wie ein Geist aus dem Nebel hervor, Mitternacht war schon vorbei, es muss wohl auf die 6 Uhr früh zugegangen sein. Gross und dunkel, die Haare wirr vom Kopf abstehend. Dicke Stacheln an Hals und Armen geboten Abstand, sein Blick mit der Anziehung eines Neutronensterns drängte auf Nähe. Wir umkreisten uns wie Planeten, damals im Februar 2003 und die Monate darauf, immer wieder. Unzählige Geschichten könnte dieses Lokal erzählen, auch von Freunden, die kamen und gingen. Uwe, der stets tanzte, als wolle er Pilze mit einer Sichel schneiden. Der Kraken – jene junge Dame die sich zwischen uns zu drängen pflegte, wo sie sich wie mit Saugnäpfen an ihm festsog, zu unserer Erheiterung. Jedenfalls bis sie mir nach Jahresfrist allmählich auf die Nerven fiel. Wie zu heiss gekochte Milch überschäumte ich vor schierem Glück, das uns im Wunderland umschloss. Es hätte mich nicht gekümmert tot umzufallen im Taumel des Hochgefühls. Oder in den Abgründen des Kummers, als er mir aus dem Weg ging, zwischen den Etagen des Lokals. Die Begegnungen hatten sich etabliert und eine Verbindlichkeit angenommen, die sich wie eine Schlinge um seinen Hals zurrte. Also befreite er sich. Schliesslich scharte er eine Gruppe scharrender Blondinen um sich – Bachelor im Kleinformat, und ich tanzte mit meinem neuen Freund. Hin und her, auf und ab. Und dann haben wir doch geheiratet.

Nun also wird das Oxa geschlossen. Der Baum, unter dem wir uns zum ersten Mal geküsst haben, wird gefällt. Das Kapitel wird geschlossen, so wie auch Liebe kommt und geht, selbst wenn wir damals dachten, es gehe für immer so weiter. Jener, den man geheiratet hat, nimmt stets einen speziellen Platz in der Erinnerung ein, und das gilt auch für den Ort, an dem alles begann. Selbst wenn längst neues Wasser durchs Flussbett fliesst. Auf Facebook nun klagen Gruppen wie „Heimatlose Raver suchen einen Club in ZH“ ihr Leid und auch der Zürcher Tagesanzeiger würzt seinen Artikel dazu mit einer Prise Wehmut. Die Tickets für die Closing-Party sind fast ausverkauft (aber ich hab drei davon, haha!). Dann verschwindet ein Andenken in der Versenkung. Und vielleicht ist das auch gut so, denn die alten Zeiten sind vorbei und werden nie mehr die selben sein. Sind es schon jetzt nicht mehr. Wo etwas zu Ende geht, kann Neues wachsen – wer weiss, vielleicht leuchtender als zuvor, und sei es auch im Kleinen?

http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/Das-Oxa-schliesst/story/25470330

http://ch.tilllate.com/de/story/oxa-nachzug?ref=20min-story

Das Mass ist voll!

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„Nach vorne und links!“. Gerade mal an die zehn bedirndelte Madl reihen sich vor dem Damenklo aneinander, doch am Oktoberfest wird nichts dem Zufall überlassen. Breitbeinig wie ein Gaucho bewacht der kräftige Sicherheitsmann die Pforte zum Lokus. Er schüttelt seine dunklen Locken und treibt uns, das weibliche Vieh, in die freien Pipiboxen. „Nach vorne und links!“ brüllt er erneut in gebieterischem Ton. Das erste Fleisch gewordene TomTom für die Pinkelpause. „Rock anheben, in die Mitte zielen, los“, versuchen einige Mädels die herrische Stimme nachzuäffen, und brechen in Kichern aus.

Auch draussen auf den Gängen wird man unbarmherzig vorwärtsgeschoben: „Weitergehen“, bellt ein Security, als ob der unaufhörlich fliessende Menschenstrom eine Alternative böte. Einige Sicherheitskräfte versuchen, auf dem stark frequentierten Weg eine Spur für das Servierpersonal freizuschaufeln. In Abschrankungen mochte man nicht investieren, statt dessen wuchten stiernackige Hulks beiderlei Geschlechts die Besucher grob beiseite. Rugby auf bayrisch. „Paxus“ steht auf dem Shirt der Dame, die mit Anlauf einen arglos daher tapsenden jungen Mann beiseite rempelt. War er eben noch friedlich, so ist er jetzt aggressiv. Klar, eine alkoholisierte Meute braucht ordnende Kräfte. Die Aufgabe ist schwer, und wer sie meistert, dem gebührt Respekt. Im Moment aber scheint es, dass manche der Kräfte den Zustand herstellen, den sie verhindern sollten.

Wer sich frühmorgens schnell genug auf einen Tisch werfen konnte, ist eh zu glücklich, um noch Ärger zu machen. Um 9 Uhr öffnet sich die Pforte zum Löwenbräu: Wer Beine hat, rennt um seine Leber – kein Sitzplatz, kein Bier. Herumstreunende Bierzeltbesucher auf der Pirsch nach einem Platz auf der Bank werden schon mal mit einem harschen „Hau ab“ vom zahnbehaarten Serviermadl vertrieben. Es gibt aber auch solche wie die unerschütterliche Anni, die mit mütterlicher Strenge und einem schmunzelnden Funkeln im Blick das übermütige Publikum in die Schranken weist und die Bänke wie Tetris mit herumirrenden Platzsuchenden füllt. Wer erst mal deponiert ist, verlässt kaum freiwillig seinen Platz, wo will man auch hin – wer das Zelt verlässt, bleibt draussen. Platz zum Tanzen gibt es auf den Bänken, und Musik nur ab und an, wenn die Kapelle spielt. Das Mass soll in Massen genossen werden – wem die Mimik entfliesst und die Augendenkel sich auf Halbmast senken, der wird von der Security herausgefischt und ins Freie entsorgt. Stil hat, wer seinen Suff kreativ erlangt: Da klettert einer schon mal auf den Tisch und giesst sich das kühle Nass zum Tranke in den Schuh oder – wenn der Durst nicht gross genug ist – einfach über den Kopf. Auf Ex kann ja jeder. Das Summen und Schwirren der Stimmen schwillt zu einem Johlen an.

So gegen 17 Uhr nachmittags, wenn genug Gerstensaft geflossen ist, steigt die Stimmung und das Publikum auf die Bank, die Musik geht in die Beine. Sodom und Gomorrha, berauschtes Feiern, deftiges Flirten, Gesang tief aus dem Zwerchfell – wer es bis dahin schafft, hat Sitzleder bewiesen, egal ob in der Krachledernen oder im Dirndl. Die Feier ist redlich verdient, acht Stunden eiserne Disziplin verlangt nach einem Ausgleich. Man nennt das Yin und Yang.

Verschlafenes Ibiza

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Mein Herz schlägt im Rhythmus der Töne, die mir orkangleich aus den Boxen entgegenfegen. Über meinem Kopf schwingen Artisten zum Takt am Trapez, wirbeln glitzernde Papierschnipsel und versenken sich in meinem Dekolleté. Das Space in Ibiza ist ein Tollhaus. Oder besser: Ein Puppenhaus. So eins ist auf der Bühne nämlich aufgebaut, mit sechs Zimmern, jedes individuell dekoriert. In einigen davon haben überirdisch schöne Burlesque-Tänzerinnen Platz genommen, sie räkeln sich in der Wanne oder auf der Récamière. In anderen Zimmern schüren bizarre und lüsterne SM-Szenen den Voyeurismus der Zuschauer. Hinter mir speit ein Polizist Feuer – er muss in seinem früheren Leben ein Drachen gewesen sein.

Es gibt also Argumente, hier noch etwas zu verweilen, aber auch solche, zu gehen. Der Schlaf ist die Woche arg zu kurz gekommen; „Trainingswoche“ lautet das Motto, morgens um 10 geht es los mit Zumba, bis in den Abend hinein wird durch den Tag getanzt, immer wieder. Keine Sekunde ist es langweilig auf dieser Insel. Nachts gibt es noch mehr Gelegenheit, sich des Lebens zu freuen. Acht Stunden Schlaf sind optimal, sieben sind ok, mit sechs macht’s langsam weh. Erst vorgestern waren es gerade mal drei Stunden und heute früh bin ich – aus Gründen, die hier nicht näher beleuchtet werden sollen – vollständig bekleidet aufgewacht und morgen, ja da geht der Flieger. Ich wollt nicht völlig zerstört zu Hause ankommen. Ausserdem passt sich das Weiss meiner Augen zunehmend der Hautfarbe an – dunkelrot. Die Menge im Club ist dicht gedrängt, Leib an Leib. Niemals würde ich in der Hauptsaison herkommen wollen. Besser, ich mach mal nen Abgang.

Es ist vier Uhr in der Früh, wie ich ins Hotel schlurfe. Jetzt hab ich genau noch 5 Stunden. Das Zimmer teile ich mit Ayla, sie ist topfit und gerade mit dem Packen ihres Koffers beschäftigt. Fröhlich schwenkt sie eine Flasche. „Ich habe diesen Wein gewonnen“, frohlockt sie, „wollen wir trinken?“. Verlockend, aber ich winke ermattet ab. „Danke, muss schlafen, dringend.“ „Ich muss meinen Koffer packen“, stöhnt sie. „Mach was du willst, ich schlafe jetzt“, knurre ich müde, und lasse mich schon bald ins Bett sinken. Ayla ist die beste Zimmergenossin, die man sich wünschen kann, aber jetzt gerade knistert sie. Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihre Kleider einzeln in Staniolpapier verpackt hat. 1000 Tüten scheinen im Zimmer hin und her zu sausen und Fangen zu spielen. Ich versuche, die Geräusche zu ignorieren, und ins Land der Träume einzutauchen. „Du, also dieser Sound war ja Schrott – und viel zu laut. Die Claudia hat sogar Herzrythmusstörungen bekommen, wegen dem Bass“ schüttelt sie fassungslos den Kopf. Mir hatte es eigentlich gepasst, ich fiepe irgendwas, und Ayla lacht „jöö, du bist so herzig – erinnerst mich ein bisschen an einen Maulwurf“. Silberne Steinchen an orientalischen Tüchern klimpern, im Necessaire rasseln Stifte, irgendetwas raschelt. Der Maulwurf gräbt sich ins Kissen.

Rund drei Stunden später wach ich zerschlagen auf. Ein Knistern dringt an mein Ohr. Hat sie etwa die ganze Nacht durchgepackt? Ich versuche weiterzuschlafen. Das Telefon klingelt: „Nein, ich kann jetzt nicht sprechen, meine Kollegin schläft noch“. Ich stelle mir Schafe vor. Noch zwei Stunden, bittteeee! Sie legt sie auf. Allmählich gleite ich wieder weg. Da klopft es an der Tür. Das Zimmermädchen. Ayla schickt sie fort, ich nicke wieder ein. „Willst du nicht aufstehen? Es ist schon nach neun – um 10 müssen wir das Zimmer abgeben!“, spüre ich eine Hand sanft an meiner Schulter. „Neeein, ich habe den Wecker auf 10 gestellt!“. Ich fühle, wie meine Augenringe tiefer in mich hinein sinken. Bestimmt wird gleich der Zimmernachbar seine Oboe auspacken oder aufs Schlagzeug hauen. Ayla geht zum Frühstück. Stille breitet sich aus im Zimmer. Eigentlich hat sie recht – ne Stunde ist knapp. Dann steh ich halt auf.       

„Zum Diktat oder du kriegst eins mit dem Lineal“: Die Brillenstudie.

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Auf der Business-Plattform Xing wirkt manch einer intelligenter, als man ihn vom Alltag her kennt. Warum? Hier trägt man auf dem Foto gern Brille, um den intellektuellen Eindruck zu unterstreichen. Auch ich stehe am Anfang einer altersbedingten Weitsicht, und die damit verbundene optische Steigerung meines Denkvermögens rückt immer näher. Nur – bei Frauen ist die Sache etwas anders. Je nach Brillenmodell wirkt frau damit nicht klüger, sondern mehr wie eine doofe Sekretärin (was nicht heisst, dass Sekretärinnen per se doof sind, gell!). Der Effekt ist offenbar erwünscht, denn genau diese Modelle gibt’s für ein paar Franken täuschend echt zu kaufen, und zwar bei einem bekannten Anbieter von Modeschmuck für kleine Mädchen. Wie ich vor dem Regal stehe, sehe ich meine Chance für einen Selbstversuch gekommen.

„Der Gitarrist“, ächzt Angélique, „ist er nicht einfach Wahnsinn“? Vorne, auf der Bühne des Wipkinger Open-Airs hüpft ein menschlicher Gummiball auf und ab, die lockige Mähne bei jedem Sprung flatternd wie die Ohren von Rowlf, dem Hund, wenn er in der Muppetshow auf die Klaviertastatur einhämmert. Viel mehr kann ich nicht erkennen, denn die Plastikbrille verschleiert meinen Blick. Ich fühle mich bescheuert, jedoch nicht ganz so unterbelichtet wie die Mädels vor mir. Die nämlich tragen Sonnenbrillen – im Dunkeln. Ich werfe einen Blick über den Brillenrand, um den Gitarristen zu studieren, ansonsten bleibt sie auf. Heute Abend interessiert mich nur eine Frage: Kann frau mit so einer dämlichen Brille bei Männern landen? Bis jetzt ist nichts Auffälliges zu beobachten, bis auf einige musternde Blicke und jenen Herrn der mit einem lauten „Pornostyle!“ auf seine Fachkenntnis der einschlägigen Filmlandschaft aufmerksam macht.

Wir beschliessen, die Studie im kleineren Rahmen eines Zürcher Szenelokals fortzusetzen. „Der da, mit dem V-Ausschnitt: Da will ich es versuchen“, frohlocke ich. Fünf Minuten später flirtet er mit einer attraktiven Brunette. Ohne Brille. Wir beschliessen, die Studie auf einer weniger praxisorientierten und mehr wissenschaftlichen Ebene fortzusetzen. „Entschuldige bitte“, Angélique tippt einem jungen Spitzbärtigen auf die Schulter, „wir führen hier eine Studie durch. Was gefällt dir besser: Frau mit oder Frau ohne Brille?“. Der Mann legt seine Stirn in Falten. Ich ziehe das Nasenvelo aus und wieder an. „Nun, es hat schon was“, wiegt er den Kopf hin und her. “Irgendwie streng. Wie eine Lehrerin. Das wirkt auf uns Männer wie auf euch Frauen die Uniform“. „Nein, nein“, verwirft der Nächste, ein stattlicher Südländer, die Hände und rollt mit den Augen „viiiel zu dominant. Ohne ist tausend Mal besser“. „Ist auch eine schwule Meinung gefragt?“. Das hübsche männliche Pärchen ist objektiv: „Beides ist gut. Die Brille wirkt speziell, aber etwas strenger“. Auch weiblichen Gäste diskutieren unterdessen eifrig mit. Eines wird klar: An singende Griechinnen denkt bei der Brille niemand. Auch weniger ans Diktat. Die Assoziation geht eher Richtung Rohrstock, Nachsitzen und Tadel. So oder so – meistens gefällt der  „Special Effect“ – man muss dazu nicht zwingend devot sein.

Der V-Ausschnitt steht neben mir. „Wo ist deine Begleitung?“, will ich wissen. „Ach, weiss auch nicht“, winkt er lapidar ab. „Du, deine Brille ist sooo toll“, haucht er. Würde er selbst eine tragen, sie wäre wohl beschlagen. Bloss, hat er das jetzt wirklich gesagt – kann nicht sein, oder? Bin ich in einer englischen Komödie? Die Sache wird zunehmend skurril und überhaupt – auch die Brille geht mir für heute allmählich auf die Nerven. „Darf ich sie trotzdem abnehmen?“, frage ich, rein rhetorisch versteht sich. „Nein. Darf ich dich küssen?“, fragt er. „NEIN“. Man müsste ihm eins mit dem Lineal zwacken für diese Dreistheit, aber das würde die Sache wohl nicht besser machen. Hilfesuchend werfe ich meinen Blick in die Runde, wo zur Hölle ist bloss Angélique? Und, Moment! Ist der dort drüben nicht der Gitarrist vom Openair? Der Typ von der Berliner Band, der Derwisch, Angéliques Traum ihrer schlaflosen Nächte? „Sorry“, sag ich zu dem Brillenfreund, „da drüben ist ein alter Bekannter, den muss ich jetzt eben mal ansprechen“.

Und was ist jetzt mit der Brille? Sie ist mir beim wilden Umhergespringe mit Angélique und den Jungs und Mädels von der Band vom Kopf gefallen. War nicht mehr zu finden. Wahrscheinlich hat sie einer als Fetisch mitgenommen.

Martin

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Ein Blog muss unterhaltsam sein. So hat man es mir gesagt. Darum wollte ich heute etwas Lustiges schreiben. Heute, am  1. April, dem Tag der Spässchen. Sowas verpflichtet. Bloss, was ist lustig? Dass ich gestern die Verpackung meiner Convenience-Spargelspitzen auf der Herdplatte eingeschmolzen hab? Wohl eher nicht.

Ich hatte also alle Hoffnungen in meinen gestrigen Ausgang gesetzt. Singles im Ausgang, das gibt immer was her, wie die Bienek vom Zürcher Tagblatt mehrfach unter Beweis gestellt hat. Der Ausgang als Garant für den ultimativen Spassfaktor quasi. Ausgehen, das bedeutet für mich nicht, mit gelangweiltem Gesichtausdruck auf Stilettos herumzustehen (auch nicht in Manolo Blahniks, aber das hatten wir ja schon). Grenzenlose Fröhlichkeit ist die Devise, sympathische Leute kennenlernen und tanzen ohne Ende. So in etwa stelle ich mir das vor. Ausserdem hatte ich auch wirklich keine Lust, den Samstag Abend allein daheim vor der Glotze zu verbringen. Wie trostlos wäre das! Also nichts wie auf in den Chreis Cheib, wo sich die Jungen und Wilden treffen. Gut, ich selber zähle ja eher zu den betagten Kartons (auch: alte Schachteln) , aber soweit bin ich noch lange nicht, dass ich meine Stützstrümpfe montiere, um an einer ü30 neben gesetzten Herren mit Schlips und Blazer mein Sulzer-Gelenk zu schütteln. Solange ich mein Gebiss zur Reinigung nicht raus nehmen kann, kriegen mich da keine 10 Pferde hin.

Ich schliesse mich also meiner lieben Kollegin an und begebe mich ordnungsgemäss aufgebretzelt in eins der illustren Szenelokale, so eins mit Elektro, House und so. Es ist noch früh, über das Lokal verteilen sich hübsche, durchgestylte Mädels und Jungs in hippen Jeans und Turnschuhen. Sie haben ihr Glas in der Hand und stehen abwartend herum. Einzig eine Gruppe von Jungs mit Haartollen, höher als die darunter liegende Stirn, geht schon in die Vollen und tanzt mit eckigen Bewegungen. Sie gleichen sich wie ein Elvis-Imitator dem anderen. Nur ein blondgelockter Knabe mit Justin-Bieber-Frisur, das Gesicht milchig wie ein Weggli, bevor es in den Backofen geschoben wird, fällt dabei aus dem Rahmen. Der Junge – er wirkt, als hiesse er Martin – hat frappante Ähnlichkeit Albert Ankers „Bildnis eines Knaben mit Mütze“ und wirft sich eben mit Anlauf an die Pole-Dance-Stange, wo er sich immerhin knapp 2 Sekunden hält, bevor er wie eine fette Robbe zu Boden sackt. Das an sich wäre ja nun wirklich amüsant – über allfällige eigene Versuche dieser Art müsste ich mich sicherlich kringeln vor Lachen, und alle anderen schätzungsweise auch. Nicht aber Martin, seine Mimik mit einem Blick, so milchig wie sein Gesicht, wird nur gelegentlich durch das Spiel seiner Lippen gestört – geschürzt wie jene von Mick Jagger, bevor er ins Mikro röhrt. Was seinen Kontrast zum Haartollen-Quartett wieder relativiert: Alle haben sie nämlich das gleiche ausdruckslose Gesicht. Den selben Tanzstil in leichter Rücklage – ich muss an Herbert Grönemeyer denken. Abgerundet wird das Bild durch in die Choreographie integrierte Siegerposen und einer Handbewegung, die an das Ziehen der Notbremse erinnert. Das hätten die gescheiter schon vorher mal gemacht.

Ich sitze da also, auf dieser kleinen harten Bank unmittelbar an der Tanzfläche, mit meinem Aperol Spritz in der Hand. Ich weiss nicht, wie lange schon. Die Kollegin ist draussen, wo es mir zu kalt ist, und raucht. Ich sitze da wie bestellt und nicht abgeholt. Statt „Deutschland sucht den Superstar“ gibt’s heute „Zugedröhnte Jungs“. Frage mich, was wohl das Mami von Martin sagen würde, wenn sie sähe, wie sich ihr süsser Spatz, kaum den Windeln entwachsen, gebärdet wie ein brünstiger Pfau. Den Spinat wollte er nicht, aber bei kleinen, chemischen Bonbons greift er munter zu. Nein, das ist keine lustige Geschichte. „Trostlos“, höre ich mich selbst murmeln. Es spielt keine Rolle; hier ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Man hört mich nicht. Ich fühle, wie das Elend in mir hochkriecht, füge eine kleine Melodie hinzu, singe leise vor mich hin: „Troohoooooostloooos. Trostlos, trostlos. Gott, wie ist das trostlos.“. Dann stehe ich auf und gehe. Bevor noch jemand einen Blog über mich schreibt.