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Die Bedeutung von Glück

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Die Bedeutung von Glück

Ich schlenderte im gleichmässigen Takt der Fussgängerpassage. Aus den Häusern drang Musik im Viervierteltakt, als plötzlich plätscherndes Stimmengewirr den Rhythmus unterbrach. Unter der glühenden Sonne von Santiago de Cuba versammelten sich farbenfroh Frauen zu einer einer kleinen Menschentraube. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, wie sie geduldig vor einem kleinen Geschäft ausharrten, in einem Land, wo die Menschen zumeist nur das Nötigste haben – das, und ein Lächeln im Gesicht, trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen. Augenscheinlich gab es günstig Shampoo und Seife zu kaufen, und dazu drängten sie nun in Richtung der Türe – gerade so, wie die jungen Menschen in unseren Breitengraden, wenn sie sich vom Türsteher Einlass in den angesagten Club erhoffen. Erschwingliches Shampoo. Was für uns ganz selbstverständlich scheint, ist in Kuba meist das Erste, worum dich bittet, wer sich von dir ein Scherflein erhofft.

Wie ich das Ereignis so auf mich wirken liess, sprach mich ein älterer Herr an, der vor dem Gebäude im Rollstuhl sass. Woher ich denn käme, wollte er auf Spanisch wissen. Nun kann ich in etwa so gut Spanisch wie Johann Schneider-Ammann Breakdance, nämlich gar nicht. Es dauerte eine Weile, bis ich seine Frage entschlüsselt hatte, die er mehrfach ruhig und in unterschiedlichen Worten formulierte, bis ich verstand. Wie es denn in der Schweiz so sei, wollte er wissen, nachdem die Frage der Herkunft geklärt war. Er kramte dazu einzelne Brocken Englisch aus seinem Gedächtnis, im Wortschatz ähnlich reichhaltig wie meine Spanisch-Kenntnisse. Die Unterhaltung schien sich in die Länge zu ziehen, und so kniete ich vor seinen Rollstuhl, um mich auf Augenhöhe mit ihm auszutauschen. Ob es tranquillo sei in der Schweiz? Er selber sei vor allem froh, dass es in Kuba kaum Gewalt gebe, oder zumindest keine Schiessereien – er zielte mit zwei Fingern in die Luft, „päng päng“.

„Bist du glücklich?“. So eine Frage hatte mir nie zuvor ein fremder Mensch auf der Strasse gestellt. Ein freudig entgegen gestrahltes „Ja“ wäre der Ernsthaftigkeit der Frage nicht gerecht geworden, wenn auch im Augenblick gewiss korrekt – aber hey, drei Wochen Kuba, siiiicher bini glücklich. Und so führten wir mit Händen und Füssen einen Diskurs über die Bedeutung von Glück, was es dazu brauche oder eben nicht. Meine Meinung, wonach Geld ab einem gewissen Punkt nichts zum Glück beitrage, erschien mir zwar etwas zynisch: Immerhin habe ich es. Trotzdem ist es nicht weniger wahr. Was unzufrieden macht, ist nicht das bisschen Mehr oder Weniger, es ist der Vergleich. Einen kleinen Moment lang zögerte ich, ihm die Gegenfrage zu stellen – ist es angemessen, einen Mann im Rollstuhl zu fragen, ob er glücklich sei? Einer, der tagsüber auf der Strasse sitzt, komplett im Ungewissen darüber, wie er sein Leben meistert? Oder ist es nicht eher völlig unangemessen, davon auszugehen, dass so ein Mensch nicht ebenso glücklich sein könne wie ich mit zwei gesunden Beinen. Ich, die ich eben noch offenbart hatte, dass auch ich nicht immer glücklich sei? „Mal mehr, mal weniger“, erwiderte er – meine Worte.

Als ich mich schliesslich zum Abschied bei ihm bedankte und meinen Weg fortsetzte, da fühlte ich mich noch beschwingter als zuvor. Ich hatte das Gefühl, etwas gelernt zu haben. Aber was? Natürlich wäre es Unfug zu denken, die Unterhaltung zwischen zwei Menschen, die nicht die selbe Sprache sprechen, würde tiefere Erkenntnisse bringen, als was in unzähligen Büchern schon geschrieben steht: Nämlich das Wichtigste, neben dem, was der Körper braucht, sei das Gefühl von Sicherheit und ein soziales Netz. Freundschaften, Familie, Zusammenhalt. Das lässt sich ganz simpel in der Maslow-Pyramide ablesen. Nichts Neues im Westen. Vielleicht, so mein Gedanke, trifft man in Kuba nicht nur der warmen Sonne wegen mehr freundliche Gesichter und Offenheit an als hierzulande. Wahrscheinlich ist es auch der starke soziale Zusammenhalt dieses Volkes, der Glück bringt. Etwas, das verloren geht, wo ein Jeder damit beschäftigt ist, unter unzähligen Optionen die beste für sich zu suchen.

Nach einigen Schritten, in Gedanken versunken, lag es plötzlich klar wie ein Bergsee vor mir. Nicht der Inhalt des Gesprächs war die Lektion gewesen! Zwei Menschen hatten sich die Zeit genommen, völlig absichtslos und trotz erheblicher Verständigungsschwierigkeiten einander zuzuhören. Das ist Glück.