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Das Kind.

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8350355167_58bca64fe1_zFettverkrustete Pfannen und Essensreste an Tellern türmen sich im Spültrog. Von den weiss getünchten Schränken des letzten Jahrhunderts blättert die Farbe in Fetzen ab, es gibt vielleicht zwei Quadratmeter Platz in dieser düsteren, dreckbefleckten Küche. In den dunklen Ecken formiert sich antiquarisches Sperrgut zu surrealen Skulpturen. Das bleiche Licht, das durch die trüben Fenster fällt, taucht die Szenerie in unheimliche Schatten. Verloren wie Alice im Plunderland stehe ich inmitten des Unrats und starre auf die verschmierten, schwarz-weissen Kacheln. „Du musst schon den Finger zum A raus nehmen, wenn sie noch herkommen soll“, schnarrt die Kollegin vor mir. Ihr Gesicht ist mir fremd. Ja, ich würde sie gerne sehen, Dolores, meine Freundin. Aber hierher kann ich sie unmöglich einladen. Schlimm genug, ich weiss, was mich erwartet. Die beiden werden mich auseinandernehmen. Und doch wähle ich Dolores‘ Nummer.

Sie klingt unwirsch. „Lass uns doch einen Drink nehmen, in der Kneipe um die Ecke“, schlage ich vor. „Ich hab aber nicht lange Zeit“, murrt es mir aus dem Telefon entgegen, „eine halbe Stunde vielleicht. Ich geh jetzt los, hol euch ab“. In zehn Minuten wird sie da sein – ich renne durchs Wohnzimmer, suche mein Portemonnaie. Wo ist meine Handtasche? Im Wohnzimmer ist es zappenduster. Schemenhaft zeichnen sich Berge von Stühlen, Lampen und allerlei Gegenständen ab. Porzellanpuppen mit starren Gesichtern stecken in Schuhen, glotzen aus Vasen. Hier sieht es aus, als wäre ein Flohmarkt explodiert. Schwere, staubige Vorhänge ersticken den Raum in beklemmendem, dunkelgrün-schwarzem Gräuel. Ich wähne mich in einem Horrorfilm. Womöglich springt gleich Chucky, die Mörderpuppe, hinter einem Schirmständer hervor. Ich finde nie etwas, wenn ich es suche, wühle im Unrat, wo zur Hölle ist mein Portemonnaie? „Chhhhhhhhh“. Ein bedrohliches Geräusch schreckt mich auf. Vor mir krümmt eine Katze ihren Buckel, faucht mich an. Ihre gelben Augen leuchten im Dunkeln.

Es klingelt, Dolores streckt ihren Kopf durch die Türe. „Kommst du?“. Sie mustert mich mit kühlem Blick. Schuhe, ich brauche Schuhe. Schnell schnappe ich nach einem purpurroten Ballerina-Schuh, der vor mir am Boden liegt. Ich schlüpfe in den Schuh, mein Fuss wird feucht. Der Wohnzimmerteppich ist mit Schlamm durchtränkt, er quillt durch meinen Schuh, färbt ihn kotig oliv, während ich mit einer Hand im Matsch tastend nach dem zweiten Treter suche. „Kommst du endlich?“. Der Tonfall ist härter, mein rotes Kleid bekleckert, ich mache einer Sumpf-Fee alle Ehre. Hektisch stolpere ich Richtung Türe, der Schweiss steht mir auf der Stirn, will den Raum verlassen, da höre ich es. „Nicht gehen“. Ich dreh mich um, hinter mir steht ein kleines Kind. Im Dunkeln, mit kurzen Haaren, nichts als ein Nachthemd am Leib. Sein Blick aus grossen Augen trifft mich, es flüstert mit heller Stimme: „Ich bin ganz allein“. Ich fühle mich nach drinnen und draussen gerissen, da dieses Kind, ich kann es so nicht stehenlassen, dort Dolores, die sich zum Gehen wendet.

Meine Augen sind jetzt offen. Wo zur Hölle bin ich? Kein Schlamm mehr, alles ordentlich aufgeräumt. Ich liege in meinem Bett und bin hellwach. Die kleinen, realen Alpträume des vergangenen Tages drängen sich in mein Bewusstsein, vermischen sich mit der klammen Atmosphäre des eben erlebten Traumes. Es fällt mir wie Regentropfen von den Augen. Ich schliesse die Lider, lass mich sinken, zurück in die andere Welt. Der Traum ist noch nicht zu Ende: Das Kind. Jemand muss es dort rausholen. Und dieser Jemand bin ich.