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Das Kriegsbeil im Oxa-Gärtli – eine Weihnachtsgeschichte.

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Das Kriegsbeil im Oxa-Gärtli – eine Weihnachtsgeschichte.
roesliEinst lernte mein damaliger Mann das Rösli kennen. Völlig legitim. Wir steckten in einer schweren Krise und hielten die Leine lang. Aufgegeben hatten wir indes noch nicht, und so suchten wir am Wochenende jeweils ein Stück Normalität zu finden. Nun störten Sonntag für Sonntag Telefonanrufe und SMS unsere Eintracht: das Rösli. Läck isch die mir ufe Sänder gange. Als ich später aus der gemeinsamen Wohnung auszog – ein schwerer Moment – da kam sie gleichentags angerauscht, mit Kind und Kegel. Die Klinke war noch warm, und die kommt, um Ferien zu machen, in MEINER Heimat, die ich eben aufgeben musste. Die kennt ja ächt nüt. Der Kessel war für mich geflickt.
Eines schönen Abends sah ich diese Person im Oxa. Sie stolzierte auf mich zu: „Ich wär denn übrigens s’Rösli“. „Ich weiss“, antwortete ich, „aber es interessiert mi nid“. Sie trug meine Rede zu ihren Kollegen. „Wie arrogant!“, schrien diese (eines der wenigen Male, wo all jene Spezialisten, die mich für arrogant halten, wirklich mal recht hatten). „Oh je, oh je,“ stöhnte mein Ex, „jetzt geht das Theater erst richtig los – das wird sie nicht auf sich sitzen lassen“. Sie aber bewies Sinn für Humor und fand, soviel Schlagfertigkeit sei grandios.
Nun hatten wir ja eines gemeinsam; einen Menschen, den wir lieben. Ausserdem war klar, dass wir uns begegnen werden, immer wieder. Also schrieb sie mich an. Das fand ich gut. Wir beschlossen, das Kriegsbeil im Oxa-Gärtli zu begraben. Als wir uns trafen, haben wir uns prächtig amüsiert und gelacht wie noch nie. Heute schreibt sie: „Und d’Moral vo derä Misere. Jetzt hei mir üs ganz doll lieb und ich ha ja eh immer gseit, mir wärde mal Fründinne!“. Lektion: Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen.
Nette Story, sagt ihr, aber das ist doch eine coole Frau. Die Leute, die ich nicht mag, sind echt üble Charaktere. Nun gut, einer noch: Sascha, ein Freund, hat Ansichten, die treiben mich bisweilen zur Weissglut. Vieles davon ist politisch. Er steht rechts, ich links. Ich schätze ihn trotzdem. Er ist manchmal ein Pilzkopf, aber er hat auch schöne Seiten. Letztere kannte sein Arbeitskollege nicht. Ein Algerier, er hielt ihn für einen Rassisten. Das kann ich verstehen. Nun sollte besagter Algerier entlassen werden, das Budget reichte einfach nicht mehr für ihn. Sascha überredete das Team, auf einen Teil des Lohnes zu verzichten, damit der Algerier bleiben könne. Was geschah? Der Algerier arbeitet noch heute dort und hat seine Sicht auf Sascha wohl geändert. Nochmal: Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen.
Das ist kein Aufruf zur Kritiklosigkeit. Ich würde nicht mit Andenmatten spazieren gehen. Aber Freunde, es ist Weihnachten. Was ich mit dieser Story sagen will, ist im Grunde biblisch: Du sollst dir kein Bildnis machen. In jedem Menschen steckt ein bisschen Gott. Man muss nicht alle Meinungen und alles Verhalten tolerieren. Aber Menschen zu verurteilen, die man kaum kennt, das ist schwer selbstgefällig. Jedenfalls wenn man nicht die geistige Flexibilität hat, seine Meinung um 180 Grad zu ändern. Es ist einer per se kein schlechter Mensch, weil er dich böse angeschaut hat. Auch nicht, weil er Dinge sagt, die dir nicht gefallen. Und nicht, weil er dir deine Frau ausgespannt hat. Zeig Grösse. Es gibt Menschen zu entdecken.
PS: Auf meiner Suche zum Thema bin ich über Max Frisch gestolpert und habe mich gefreut, wie schön er meine Gedanken in Worte fasst:

Wider das Vorurteil.

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urteil„Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Aristoteles.

Sein fester Schritt stampfte über den Boden. Ich fühlte mich wie von einem Windstoss erfasst, wenn er funkensprühend vorbei fegte. Seine kräftige Stimme füllte den Raum, nicht selten begleitet von einem Lachen, das tief aus dem Bauch die Luft zum Vibrieren brachte. Der Mann versprühte Dynamik und Energie. Sein Blick aus engen Pupillen drohte mich zu durchbohren, wenn er in siegessicherem Lächeln seine Zähne entblösste und mit ballmaschinenartig vorgetragenen Fragen das verbale Duell eröffnete, immer hart an der Grenze zur Unverschämtheit. Stark und unaufhaltsam wie das Wasser eines Tsunamis schien er sich vorwärts zu schieben und über mich hereinzubrechen. Mit der Zeit, da ich ihn näher kennenlernte, zeigte sich Stück um Stück ein neues Bild. Die schillernde Schale brach da und dort auf, offenbarte einen sensiblen Kern; einen nachdenklichen Menschen, der nach Antworten sucht, nach einer höheren Wahrheit. Einen, der sich in der Stille, in zarten, leisen Tönen wohl fühlt. Einen, der bisweilen unsicher ist und Anerkennung sucht, so wie das jeder und jede von uns tut. Ich habe mir zig Mal ein Urteil über ihn gebildet, hätte ihn hundert Mal an die Wand schlagen können und habe ihn ebenso oft auf ein Podest gestellt. So viele verschiedene Facetten und Gott weiss, ich kenne ihn noch immer nicht.

Mich kennen die Leute bisweilen, ohne je ein Wort mit mir gesprochen zu haben. „Weisst du, ich bin ein Hobbypsychologe“, meint irgendein Kerl vor mir mit selbstgefälligem Grinsen, „du bist so eine, die gut ins Pascha passen würde – ein bisschen Luxus und gut situierte Typen“. Die analytischen Eigenschaften des Hobbypsychologen reichen genau bis zu meinem geschminktem Gesicht. Wie so oft. Eine Armee von selbst ernannten Freuds übersät unseren Planeten, stolz auf ihre Fähigkeit, Menschen in eine Schublade zu stecken. Das nennen sie dann psychologischen Schwach-, pardon, Scharfsinn. In Wikipedia lässt sich zum Begriff „Vorurteil“ lesen: „Es ist eine meist wenig reflektierte Meinung – ohne verstandesgemäße Würdigung aller relevanten Eigenschaften eines Sachverhaltes oder einer Person“. Werten, Abwerten – wie oft hab ich‘s schon getan, tue es noch, völlig unbewusst. Wo ist die Grenze, was ist erlaubt? Klar, es käme mir nicht in den Sinn, über den Obdachlosen zu richten, der mit seinem Bier in der Hand am Stauffacher auf dem Bänkli sitzt. Gott weiss, was er erlebt hat, wie es dazu kam, und was der Mann tagtäglich übersteht. Aber was ist mit der blöden Gumsel, die meiner Freundin im Büro das Leben zur Hölle macht? Was wiegt stärker, die Loyalität zur Freundin oder der Anspruch, keinen Stab über andere zu brechen? Was ist mit den kleingeistigen, scheinheiligen, selbstgerechten, menschenverachtenden… ich finde sicher noch ein paar Adjektive, ich spür schon so ein Würgen im Hals – jene, die ich verurteile, weil sie verurteilen?

Manche Menschen fühlen sich überlegen, weil sie eine bestimmte Kleidermarke tragen. Manche, weil sie die „richtige“ Musik hören oder die „falsche“ eben nicht. Weil sie den richtigen Fussballklub unterstützen. Weil sie diese Literatur lesen, aber jene Zeitung nicht. Weil sie schön sind, als ob das ein Verdienst wäre. Wegen ihres grossen Wissens – jener Eigenschaft, die in der Zukunft am leichtesten durch künstliche Intelligenz ersetzt werden kann. Sobald es um Politik oder Religion geht, sind die Leute dann auch gerne mal bereit, jedem den Kopf einzuschlagen, der die eigene Meinung nicht teilt. Soviel Überheblichkeit und Intoleranz find ich persönlich ziemlich unterbelichtet – zack, ein Urteil, wie Agent Orange im Rundumschlag über den Grossteil des Menschenwalds gesprüht.

„Man“ tut das nicht und da geht „man“ auch nicht hin. Der Arsch der Frau da vorne ist zu dick für das enge Kleid. Wir wissen das, wir sind vom Ordnungsamt zur Regelung einheitlicher Arschgrössen. Leggins sind out, Grün ebenfalls, Grau ist eh schöner. Aber bitte nicht im Mustermix. Wer Ziegelsteine vom Dach wirft, verdient nicht zu leben. Albaner sind, ebenso wie die Türken… und Aargauer sowieso. Von den Zürchern wollen wir schon gar nicht erst reden. Wir sind hochintellektuell, aber das könnt ihr freilich nicht beurteilen, dazu ist euer Geist zu unterkomplex. Die ist billig, der arrogant, Schlampe, Spiesser, Koksnase, und jener mit der Brille, also da hab ich von Anfang an gemerkt, dass der irgendwie suspekt ist. Schau mal, der guckt schon so komisch.

Ein Blickwinkel wie ein Röhrchen in einem grossen Krug Panaché. Zielorientiert saugen wir den Zitronensirup vom Boden des Glases und verkünden, Panaché inskünftig zu meiden. Es schmeckt einfach zu säuerlich.

Wer zu wissen glaubt, (hinter)fragt nicht. Wer nicht fragt, lernt nichts dazu.