Nachts in Herrn Salzmanns Schlafzimmer.

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Oft steht er im Hausflur und schaut aus dem Fenster am Treppenaufgang. Er wirkt meist etwas verloren. Manchmal trifft es sich, dass wir zusammen im Lift stehen. Dann sucht er das Gespräch und pflegt zu sagen „Ach wissen Sie, es ist nicht einfach, so allein, seit meine Frau gestorben ist“. Es verstreichen nur einige Sekunden zwischen den neun Stockwerken, doch das genügt, um die ganze Wehmut zu erfassen, die diesen alten Mann gefangen hält. 

Die Nacht ist hereingebrochen, rastlos wälze ich mich im Bett hin und her. Zwei Dosen Red Bull pro Tag sind einfach zu viel. Zwischen zwei Atemzügen meines unruhigen Schlafes höre ich eine Stimme. „Haaalllooooo“. Ach nee. Wieder mal einer besoffen. „Haaaaloo… ife in umett ugeit!“, krakelt es. Ehm, wie war das? Bitte nochmal. „Haaallloo“. „Vielleicht braucht jemand Hilfe?“, frage ich mich, „die alte Frau von nebenan?“. „Ach wo. Schlaf jetzt!“. Zwei Seelen in meiner Brust, sie fangen sich an zu streiten. So ist an Schlaf nicht zu denken. Ich stehe auf, schmeiss mir was über und öffne die Wohnungstüre. Totenstill breitet sich der Hausflur vor mir aus. Bin ich denn die einzige, die da etwas hört? Jetzt, da ist es wieder: „Haaalooo! Hilfe, bin zum Bett us gheit!“. Oha. Aber wer ist aus dem Bett gefallen? Wo? Wie soll er oder sie mir denn die Türe öffnen? Bald renne ich die Treppe hinauf, im Bademantel mit den kleinen Totenköpfchen, bald die Treppe hinunter. Ich lausche an der Türe zur Wohnung unter mir. „M. Salzmann“ steht da. Ob das der alte Mann aus dem Lift ist? Aus der Wohnung von Herrn Salzmann erklingt ein klägliches Rufen.

Ich klopfe. Rufe. Klingle. „Haaalllooo! Hil-fe-bi-zum-Bett-us-gheit!“. Der Mann hört mich nicht, hat sich schon zu tief eingesungen in seinen Hilferuf. Ich brauche einen Freund und Helfer. Also wähle ich die 117 und schildere meine Beobachtungen dem freundlichen Mann von der Stadtpolizei. „Wir schicken einen Streifenwagen her“, sagt der Mann am Telefon „können wir bei Ihnen klingeln“? Aber sicher. Wozu sonst heisse ich Klinger? Der Traum vom Schlaf rückt in weite Ferne.

Die beiden Polizisten, ein Mann und eine Frau, sind bald da. Ich höre, wie sie poltern, wie sie rufen, erfolglos. Kaum zurück im Bett, klopft es an der Türe. „Entschuldigen Sie, haben Sie wohl einen Balkon?“. Die Polizistin durchquert meine Wohnung, guckt vom Balkon hinunter, sieht da aber auch nichts. „Der Schlüssel steckt. Wir kommen nicht rein. Wir haben den Schlüsseldienst bestellt“. Nach einer weiteren Viertelstunde ruckt und rattert es im Flur. „Haaallllooo! Hilfe bi zum Bett usgheit“. Immer und immer wieder. Schon seit über eine Stunde schreit der Mann gebetsmühlenartig sein Sprüchlein. Das tut weh im Herz. Er sollte sich einen Futon zulegen. Und ich sollte jetzt schlafen. Kann nicht, solange es weiter ruft. Ein Stock tiefer geht es mit dem Bohrer zur Sache. „Haaaalooooo…“. Um 3.56 Uhr endlich knirscht und knarscht es im unteren Stockwerk. Die Tür ist ausgehebelt. Stille kehrt ein. Die Gedanken kreisen weiter, bis zum Morgengrauen.  

Am anderen Tag, erneut stehe ich vor der Salzmann’schen Tür, mit bunten Tulpen in der Hand, und drücke auf den Klingelknopf. Mit Erfolg! Der Mann – ja, es ist jener aus dem Lift – öffnet mir die Tür. Ich sage, dass ich die Polizei gerufen hatte, versuche zu erfahren, ob man Angehörige informieren könnte, beim nächsten Mal. Er versteht nicht. „Ja, die Polizei“, sagt er, „durchs Fenster sind sie gekommen. Niemand hat reagiert, nur die da oben“. Er deutet mit dem Finger gegen meine Wohnung „Ich BIN die da oben“, sage ich und weiss, im nächsten Moment wird er es wieder vergessen haben. Er ist 96. Und geht jetzt ins Bett. „Ich bin so müde“, gähnt er. Das kann ich wirklich gerade sehr gut nachfühlen. „Gute Nacht“, sage ich. Er nickt, dreht den Schlüssel im Schloss, und lässt ihn stecken. 

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