Wie echt darf ein Mensch sein?

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DSC_0202„Hm, also das würde ich nicht veröffentlichen“. Joël ist besorgt. Ich hab ihm meinen jüngsten Blogbeitrag zum Vortesten geschickt – nee, besonders fröhlich ist der nicht. „Man kennt dich als strahlende, stolze Frau. Das hier wird an dir haften bleiben, man wird dich fortan so sehen“. Ich bin erst mal geschockt, dann wütend. Weil ich weiss, dass er recht hat. Kein Mensch ist so einseitig, dass er nur eine Facette hätte. Aber jene, die am meisten auffällt, daran wirst du gemessen und bewertet. Wir sind ein lustiges Volk von Hedonisten, das Dunkle wird in den Keller verbannt. Das gilt nicht nur für Typen wie Fritzl. Gefühle sind generell verdächtig und mit Bedacht zu äussern. Tut man es trotzdem, und ich kann einfach nicht anders, erntet man bestenfalls komische Blicke, schlimmstenfalls wird man gemieden. Manche finden keine Worte, wenn du das Dunkle, Leidvolle aussprichst. Sie finden die Worte, sobald du ihnen den Rücken gedreht hast – dann nämlich, wenn sie dich bei Dritten verhandeln. Gewisse lachen dich aus, sagen „solche Probleme kenne ich nicht“ oder „ich kann das halt besser ertragen“, suhlen sich im Gefühl, überlegen zu sein. Will man solchen Menschen eine Steilvorlage bieten?

Die Sache ist nur – ist eine Welt voll von gottverdammten Fassaden lebenswert? Ist es nicht eben von Wert zu sehen, dass auch andere stolpern, hadern und mit den selben Problemen kämpfen? Sind nicht jene die wahren Helden, die ihr Schiff bei starkem Seegang lenken, ihre Bürde mit Würde tragen? Wieviel Tiefgang kann jemand haben, der keine Tiefen hat?

Ich denke oft an Beat. Er weiss es wohl nicht, aber er ist mein Vorbild. Schon optisch hob er sich von der Menge ab, mit langem Haar, stets schwarz gekleidet. Man traf ihn an Parties, bei deren Erwähnung den Bravbürgern der Atem stockt. Er selber freilich machte keinen Hehl daraus. Kompromisslos authentisch. Beat lebte intensiv. Selber wirkte er dennoch ruhig, überlegt, reflektiert. Als er durch ein Schicksal in der Familie einen Rückschlag erlitt, da hat er vom wilden Leben Abschied genommen. Ein Mensch mit Verantwortungsbewusstsein. Eine Führungskraft. Seine ganze Abteilung leitete er mit Herz, Verstand und viel Feingefühl. Wer immer ihn kannte, respektierte ihn trotz seiner Andersartigkeit. Weil er das Rückgrat hatte, zu sich zu stehen, was immer auch andere darüber denken mögen. Und weil er tief in sich hinein blicken liess, direkt in sein grosses Herz.

Auch Rebekka, die hübsche, sympathische junge Frau, bringt mich ins Grübeln. Sie ist Alkoholikerin. Eines Tages stiess ich auf ihren Blog, der mit ehrlich gewählten Worten all ihre Abstürze beschrieb. Im Detail. Was in ihr vorging angesichts der leeren Flaschen, die sich in ihrem Hause türmen. Ein Scherbenhaufen, nicht nur aus Glas. Ihre Scham darüber, was sie alles angestellt hat während ihrer Filmrisse. Das Bedauern, viele Menschen durch ihre Krankheit verletzt zu haben. Ihren Kampf, ihre innere Zerrissenheit. Worte einer sensiblen, intelligenten Frau. Dank ihren Zeilen konnte ich sie ein bisschen verstehen. So viele blicken auf solch einen Menschen vom hohen Ross mit Verachtung herab. Für mich hat sie durch ihre Offenheit an Grösse gewonnen.

Ja, Joël hat nicht unrecht mit seinen Bedenken. Und das macht mir Angst. Der Mensch wertet, reduziert, verzerrt. Wer will so eine Karikatur von sich schon sehen? Es ist mir nicht egal, was ihr über mich denkt. Ihr habt keine Ahnung, was ihr deswegen an geilen Blogs schon verpasst habt. Der erste Besuch einer *** beispielsweise, oder dieses völlig skurrile Stelldichein im ***. Gar nicht zu sprechen von der durch und durch komischen Geschichte einer komplett missglückten ***. Trotzdem. Es ist ein Unrecht, dass er damit recht hat. Und deswegen bring ich den Blogbeitrag trotzdem. Bald.

Eine Antwort »

  1. Dazu passt doch ein bisschen Lyrik und was Versöhnliches!
    Ich bin nämlich ein Harmoniemensch. 🙂

    „Warum kommt niemand zu mir?
    Warum ruft mich keiner an?
    Ich bin trunken vor Sehnsucht
    nach einem Menschen,
    der mir ohne Maske begegnet,
    einem, der ist, wie er ist,
    einem, bei dem ich sein kann, wie ich bin,
    nicht klüger, nicht dümmer,
    nicht weniger fromm und nicht frömmer,
    einem Menschen, der mich annimmt,
    wenn ich heiter oder gelassen,
    wenn ich versonnen oder traurig bin,
    wenn ich heute so bin und morgen so,
    einmal so gestimmt
    ein andermal verstimmt.
    Meine Laute ist auch
    nicht immer gleich gestimmt.
    Kälte, Wärme, Wind und Nässe
    rühren an die Saiten
    und wenn sie so lebt, meine Gitarre,
    warum nicht auch ich?
    Nehmen nicht auch wir alles wahr,
    das Hohe, das Tiefe, das Yang und das Yin?
    Die feinste Schwingung?
    Erdiges und Geistiges,
    irdisches und Himmlisches
    und den Menschen, der beides verbindet?

    Selbst wenn wir einander noch fremd sind,
    so können wir einander begegnen.“

    Erich Heindler

    • Also, Herr Harmoniemensch, deine Lyrik ist immer wieder ein wertvolles Geschenk. Jenes von Norbert Elias ist heute noch mein Favourite, ich könnte es immer und immer wieder lesen. Und auch das hier ist sehr schön, danke dir dafür.

      • Dann übrigens auch noch vielen Dank – naaaa, Du weisst schon für was! Und zum Gedicht von Norbert Elias: Als Gedicht ist es super, als realexistierende Erfahrung ist die „Sache“ doch eher suboptimal! 😉

  2. Aus Neugierde (oder ehrlich gesagt, weil ich diese Woche einen zum Glück nur 1-abendlichen Rückfall hatte) bin ich mal wieder auf deinem Blog gelandet. Um nicht sämtliche Gedankenzüge, welchen ich öfters mal selbst nicht mehr folgen kann, auszuführen, habe ich jedenfalls an dich gedacht.

    Dieser Blog hat mich natürlich besonders ge- und berührt….

    Herzlichst
    Rebekka

    • Oh! Dass du über meinen Blog stolperst und insbesondere über diesen Beitrag, das habe ich nicht geahnt :-). Umso mehr freut es mich jetzt, dass ich diese Worte geschrieben habe und vor allem, dass ich dir inmitten deines Rückfalls offensichtlich etwas Positives entgegenbringen konnte. Da fragt sich jetzt, ob es Zufall war, oder ob es so hat sein sollen. Ich hoffe, es geht dir gut.
      Herzliche Grüsse, Natascha

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