Schmutzige Wäsche.

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DSC_0011sJa, ich tue es schon wieder. Auf leisen Sohlen schleich ich mich herein, blicke mich um. Niemand da, die Luft ist rein. Schnell breite ich meine Ware aus, bevor jemand kommt. Drei grosse Haufen, heute hab ich besonders viel Material. Ich öffne leise die Luke, stopfe die erste Ladung rein. Husch, husch, weiter, die zweite Fuhre, dann die dritte. Ich weiss, es ist nicht ganz sauber, aber heute wird schmutzige Wäsche gewaschen. Jetzt gibt es kein Zurück. Die Maschinerie ist angelaufen, nimmt ihren Gang. Es wird nur eine halbe Stunde dauern. Eh mich jemand erwischt, ist das Geschäft erledigt. Hoffe ich. Jetzt erst lasse ich meinen Blick über die Tabelle mit den fein säuberlich eingetragenen Daten gleiten: 2-Z-Whg, 5. Stock. Ich wohne im Zehnten. Ich bin ein Rebell, fast schon kriminell: Ich habe die Waschküche ausserhalb meines Waschtags belegt! „Lapalie“, höre ich euch verächtlich schnauben. Aber hört, Waschküchenstreit kann tödlich enden.

„Die Saumore“, Oma Lisbeth schüttelt sich angewidert. „Die schmeisst die Essensreste einfach in den Hof. Das zieht doch die Ratten an!“. Oma Lisbeth hasst Ratten – sie hat eine Phobie und die Wohnung parterre. „Im Waschhaus hinterlässt die auch nur Dreck. Neulich hab ich Schrauben in der Maschine gefunden, Schrauben! Jetzt kannst dir mal vorstellen, wie die putzt“. Die Stimmung ist miserabel im 6-Familienhaus am Erlacherhof. „Die“, das ist die Nachbarin, Clémence Poletti. Eine Elsässerin. Nicht dass es relevant wäre, die Verständigungsschwierigkeiten übersteigen das Sprachliche. Poletti ist selten zu sehen, aber wenn sie mir begegnet, sehe ich aufgeschwemmte Gesichtszüge. „Alkoholiker“, flüstert man hinter vorgehaltener Hand, „alle beide, der Mann auch“. Man wohnt Tür an Tür, aus dem Weg gehen kann man sich nicht. Eines Morgens klopft es an eben dieser Tür. Lisbeths Mann Ruedi öffnet. Vor der Tür steht der alte Poletti, mit blutunterlaufenen Augen. Er hat eine Waffe in der Hand. Drückt ab. Ruedi geht nieder. Er ist getroffen, in der Schulter. Poletti wendet sich ab, geht breitbeinig die Treppe hinauf, gemächlich, er ist nicht mehr so fit, bis in den dritten Stock. Klopft wieder. In der Tür erscheint Beat K.. Beat, ein ruhiger, netter Mann, immer gut gelaunt. Er hat sich in den Streit nie eingemischt. Wieder zielt Poletti. Jetzt hat er Übung, trifft. Wir werden nie erfahren, was Beat in diesem Moment gedacht hat.

Einige Monate später klingelt es auch an meiner Türe, gefolgt von einem energischen Klopfen. Die Wäsche ist schon gewaschen, hängt an der Leine zum Trocknen. Vor mir steht bücklings die Huber vom vierten Stock. Sie ist unbewaffnet, bis auf ihren Stock, auf den sie sich jetzt stützt. Heute mein offizieller Waschtag. „Chöme sie emoll mit“, fordert sie bestimmt, „ich zeig ihne öbbis“. Ich folge ihr in den Keller. Ob sie mir den Stock über die Rübe ziehen wird? „Luege sie emoll, düen sie d’Chleider nid eifach so über d’Lyyne hängge. Nähme sie Chlämmerli!“. Und jetzt? Hab mich bis heute dem Chlämmerli-Diktat verweigert. Bin eben ein Rebell. Und heute, hier im Hause am Letzigraben, hat es eh keinen Trockenraum. Nur Tumbler. 2000-Watt-Gesellschaft ade, ich elende Stromverschwenderin. Asche auf mein Haupt.

* die Namen sind wie meistens und in heiklen Fällen immer frei erfunden.

Auszeit im Lift

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OLYMPUS DIGITAL CAMERA„Rchrchrchr“. Die Falttüre des Lifts klappt zu. „Rchrchrchr“. Sie schnellt wieder auf. „„Rchrchrchr, Rchrchrchr“. Der Aufzug flattert mit seinen Flügeln wie ein aufgescheuchtes Huhn beim Anblick des Bündner Wolfs. Wahrscheinlich fährt er gleich wieder mit mir in den Keller. Des Gefährt aus dem Jahr 1952 ist im Alter etwas eigensinnig geworden. Heute steht mir der Sinn nicht nach Abenteuer: Ich geh zu Fuss, ächze mich zehn Etagen hoch. Oben angekommen, steht die renitente Kabine schon da und grinst mich an, mit ihrem fahlgelben Licht.  

Ich hab ja so quasi schon mal im Lift festgesteckt, am Zürifäscht vor einigen Jahren. Michel und ich hatten uns bereit erklärt, für einen Coiffeur Werbung zu machen. Dazu hatten wir nichts weiter zu tun, als mit opulenten Frisuren und wildem Make-up durch die Altstadt zu ziehen. Wir wurden begleitet von Gusti. Dessen Freundin, eine Bankerin, lud uns ein, spontan auf der Dachterrasse der Crédit Suisse vorbeizuschauen. Es gab Cüpli und freien Blick aufs Feuerwerk. Ich liebe Feuerwerk!

Die Raketen schiessen hoch und bunt. Wie der letzte Funke vom Himmel regnet, wollen wir weiterziehen. Wo Sibylle wohl steckt, ist sie schon draussen? Wir steigen zu dritt in den Lift und drücken frohgemut den Parterreknopf. Die kleine Kammer ruckelt und surrt gemächlich ins Erdgeschoss, bleibt mit einem kleinen Zittern stehen und gibt den Blick in einen mit Bancomaten ausgestatten Raum frei. „Ha-haalt“, stottert Gusti, „das ist die Schalterhalle – da gehen wir besser nicht rein!“. Er drückt den ersten Stock, den zweiten, der Lift macht keinen Wank. Er flucht, seine Stirn beginnt zu glänzen. Nervös zückt er sein Handy, wählt Sibylles Nummer: „Wir sind hier im Lift, in der Schalterhalle unten“. 

„Wo seid ihr???“. Sibylles Stimme gellt durchs Handy als hätte sie eben ein Zalando-Paket erhalten.
„Ich hab dir gesagt, nimm nicht den Lift! Ich habe es dir GESAGT“.
Schade, hat sie es uns nicht auch wissen lassen. Ich seufze in mich hinein.
Das Handy kreischt weiter: „Wenn ihr den Lift durch die Schalterhalle verlasst, steht in 5 Minuten die Polizei im Raum und steckt euch ein Maschinengewehr in die Nase“.
Klingt verlockend. Ich bin mir sicher, wir würden es locker auf die Titelseite diverser Tageszeitungen schaffen, erst recht mit dieser Frisur. Ich stell mir die Gesichter vor, wenn die uns in diesem Aufzug im Aufzug finden.

Wir warten.
Eine halbe, eine ganze Stunde. Sibylle versucht den Hauswart zu erreichen – keine Ahnung, was geht.
Jetzt ist es soweit, der Plan steht. Es gibt einen Ausweg. Vorsichtig öffnen wir die Tür zur Schalterhalle. Wir zünden eine Zigarette an. Im Rauch werden die Lichtschranken sichtbar. Ich spüre die Milben des Teppichs in meinen Atemwegen, während ich flach unter den Strahlen durchrobbe. Wo bleibt George?? Ok, alles Quatsch. Gleich neben dem Lift gibt’s eine Treppe. Die ist zu erreichen, ohne dass der Alarm losgeht. Warum hat man uns das nicht vor einer Stunde schon gesagt?

Sibylle steht oben an der Treppe, und entlädt eine Salve tief emotionaler Begrüssungsworte über dem Haupt ihres Liebsten. Ich bin einfach nur froh, gibt es keine Blick-Schlagzeile.

Klingeln bei Klinger.

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DSC_0494Kopfüber hänge ich in der Badewanne, das Haar schäumt. Eine dicke, weisse Schicht ziert mein Antlitz: „Totes Meer, Erholung“ stand auf der Packung. Tot fühl ich mich auch, brauch dringend Erholung. Ich versuche eben, die Spuren meiner nächtlichen Eskapaden zu verwischen. „Ding-dang-dong“. An der Türe klingelt es. Ich erwarte niemanden. „Ding-dang-dong, ding-dang-dong“. Es klingelt Sturm. Ich spüle gelassen den Schaum aus meinem Haar. „Klopf, klopf“. Oh je. Der Feind steht direkt vor der Türe. Ob die Nachbarin frische Eier braucht? Mein Kühlschrank ist leer. Wie immer. Bier hätt ich noch. „Plonk“. Eben drückt jemand die Türfalle runter, versucht, auch ohne Einladung in mein Reich einzudringen.

What the hell? Vielleicht brennt die Hütte? Das Handtuch um den Kopf gewickelt, guck ich vom Balkon runter. Ein Polizeiauto steht da. Zwei Polizisten betrachten einen verwitterten VW-Bus. Daneben, auf der Wiese, liegt ein Surfbrett. Ob sich jemand für den Silver Surfer hielt und vom Balkon sprang? Ich komme als Mörderin nicht in Frage. Mein Balkon liegt auf der anderen Seite. Ich glaube, ein Stück Zelt zu sehen. Ob jemand auf dem Rasen campiert? „Es muss die Klinger sein“, höre ich in Gedanken die Nachbarn sagen, „die läuft schon immer so komisch rum, und was da für Leute ein und aus gehen…“. Vielleicht ist es auch die Plane mit der Leiche.

„Ding-dang-dong“. Ich bin eben der Dusche entstiegen, noch immer nackt, was soll der Terror an einem heiligen Sonntag? Hoffentlich ist es wenigstens ein schöner Polizist…?! Ich werf mir was über. Spähe durchs Guckloch. Niemand da. Also wenn die mich verhaften wollen, sollen sie mich gefälligst holen. Die Gegensprechanlage funktioniert nicht. Ich lass doch nicht einfach jeden ins Haus. Am Ende heisst es noch „Erwachet!“ oder ein Mobilfunkverkäufer klemmt seinen Fuss in meine Tür.

Eine Stunde später: „Ding-dang-dong“. Na gut, dann geh ich jetzt doch mal runter. So schlimm kann’s ja nicht sein, sonst hätten die mir schon längst die Türe eingetreten und das Sturmgewehr ins Nasenloch gesteckt. Im Hausflur begegne ich dem Hauswart. „Wissen Sie, warum es bei mir den lieben Tag lang klingelt?“. Er wirkt verblüfft, überlegt kurz, jetzt ist es ihm klar. „Ja, die suchen Frau Klingler aus dem 4. Stock. Die ist aus dem Pflegeheim abgehauen“. Meine Namensvetterin. Eine freundliche, ältere Dame, die immer wieder von Neuem erstaunt ist, dass ich ihren Namen kenne. Kein Wunder, entflieht sie aus dem Pflegeheim. Sie wird vergessen haben, dass sie jetzt dort wohnt. Ein GPS-Sender käme wohl günstiger als dieses Polizeiaufgebot.

Auf dem Bildschirm flimmert ein Krimi. Gleich wird sich herausstellen, warum dieser Kerl all die Frauen erstochen hat. „Ding-dang-dong“. Ich seufze und versuche ächzend, mich vom Sofa zu erheben. Zu meinem Bandscheibenvorfall am Hals hat sich nun noch ein Hexenschuss im Kreuz gesellt. Wenn man mich in ein Pflegeheim stecken wollte, ich schwöre, ich würde gern dort bleiben.

Unten vor der Haustüre tummeln sich, schnittig in Polizeiuniform gekleidet, zwei hochattraktive, ahm, Blondinen. Heute gönnt man mir auch gar nichts. Ich kläre auf, dass ich nicht aus dem Pflegeheim entwichen bin: „Klinger – Klingler, Sie haben am falschen Ort geklingelt“. Hiesse jemand im Hause Lüthi, die hätten wohl auch dort geläutet. Oder bei Schellenbergs geschellt. Die Damen schmunzeln und entschuldigen sich.

Der Krimi ist zu Ende. Warum die Frauen ermordet wurden, weiss ich jetzt auch nicht. Vermutlich habe sie einem Fremden die Tür geöffnet. Bewaffnet mit nem Teller Nudeln mach ich’s mir wieder gemütlich. „Ding-dang-dong“. Das Erinnerungsvermögen der Polizei scheint nicht viel besser zu sein als das der dementen Flüchtigen. Nochmals aufstehen, autsch mein Rücken, drück jetzt ganz einfach den Türöffner. Morgen häng ich ein Schild hin: Wenn die Spitex kommt, soll sie bei mir bitte auch mal durchklingeln.

Am Rand der Parkbank.

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3376768576_9b3f6341c9_bEs kotzt mich an. Ich häng schon wieder alleine rum. Hallo, es ist 1. August!? Grillieren mit Freunden wär angesagt. Ja, ich hab auch was abgemacht, aber dann waren alle zu müde. Jetzt sitz ich auf einem Bänkli, am Rande der Bäckeranlage. In der Hand eine Dose Büchsensekt. Wie eine Randständige oder besser: eine Randsitzende. Ich schau in die Wolken und auf das bunte Treiben vor mir. Wie wird ein Penner wohl zu dem, was er ist? Irgendwie muss es anfangen. Wahrscheinlich genau so.

Der Gedanke lässt mich nicht los. Ein Penner. Was geht in einem Menschen vor, der so lebt? Ich wollt’s schon immer wissen, hab aber zuviel Respekt. Ich wage nicht, die Leute auszufragen. Heute aber bin ich mutig. Immerhin sind es schon zwei Büchsen. Mit einem Ruck stehe ich auf und ziehe los. Man weiss ja, wo sie sitzen, mit dem Bier in der Hand. Am Stadelhofen werde ich fündig. Eine Gruppe Herren schart sich um eine Parkbank. Die meisten sind schon etwas älter. Einer trägt Federn am Hut, das Heroin hat sich ihm ins Gesicht gefressen. Zwei oder drei der Männer sitzen auf dem Kiesplatz. „Hat’s hier noch Platz für mich?“ frage ich, und zeige mit dem Finger auf das leere Fleckchen am Rande der Parkbank. Ein älterer Herr um die 60, wacher Blick, Schalk in den Augen, rückt sofort beiseite. „Aber klar“, sagt er. „Was machst du so?“, frag ich ihn. Designer sei er, erwidert er mit verschmitztem Grinsen. Er tippt auf seine olivgrün-verblichene Weste mit dem H&M-Schild: „Das da, das hab ich designed“.

Ein Riesenknall, gefolgt von einem langen Pfeifen in meinem Ohr. Einer hat nen Knallkörper gezündet, viel zu nahe bei den Leuten, der Knallfrosch. Hab ich 15 Jahre Parties schadlos überstanden, um mir hier jetzt einen Tinnitus einzufangen? Es geht keine 15 Sekunden, schon schnappt sich die Polizei den Missetäter: „Ausweis bitte“, herrscht ihn der Uniformierte an„Ich hab keinen!“. Hände auf dem Rücken, so wird er abgeführt. „Hat hier noch jemand Feuerwerkskörper?“. Wir schütteln die Köpfe. Jetzt zeigen die Männer ihre Blessuren Einer scheint getroffen, hat eine Wunde. Ein anderer zeigt auf eine Narbe; auch die sei vom Feuerwerk.

Auf dem Platz wuseln allerlei Gestalten durcheinander. Wie Pilze aus dem Boden treiben neue Gspänli in die Gruppe, um nach einer Weile wieder weiterzufliessen. Manche wirken verwildert, andere gepflegt. Einer davon erkundigt nach dem Jahrgang meiner Mutter. „Du könntest meine Tochter sein, gleichst mir irgendwie“, mustert er mich und grinst, „frag mal deine Mutter, ob sie den Charlie kennt“.

Vor mir sitzt Karol auf dem Boden. Sein Blick aus stahlblauen Augen ist fokussiert und fixiert mich. Er mag vielleicht um die 40 sein. Dilettantisch gestochene Tattoos zieren seine Arme. „Die hat er aus dem Knast“, verrät der Designer. „Eine Schlägerei“, ergänzt Karol. Er habe in Haft auch Japanisch gelernt. Es muss wohl ein gröberer Raufhandel gewesen sein. Karol spricht Deutsch mit Akzent. Das „i“ betont er spitz. Aus Polen sei er herkommen. „Warum?“, frage ich. „„Mein Sohn“, Karols Blick ist ernst „er Krebs. 10 Jahre alt. Tot.“. Karol steht auf, gestikuliert. „Meine Frau mit Tochter: Kreuzung, Lastwagen, Bumm, Tot.“. Er setzt sich wieder hin. „Meine Mutter sagen, Karol, du trinken, hier Karol, Wooodka. Ich trinken. Ich sagen, nein, Mutti, nicht trinken, ich Problem, trinken immer mehr. Ich gehen Frankreich, Italien, Deutschland, kommen hier. Jetzt, ich bin Penner“. Sein Blick durchdringt mich.

Nun tastet sich Silvia auf den Platz neben mir. Nur ab und an scheint sie mich anzusehen, blickt meist durch mich hindurch. Sie schätzt mich auf 50, das Alter, das sie selber zählt. Sie sieht verwittert aus, spricht wenig. Leise singt sie vor sich hin. Ich hol mal eine Runde Freibier und Cheeseburger. Hab ein schlechtes Gewissen. Wie heisst das Fachwort schon wieder, wenn man die Sucht unterstützt? Na anyway. Wie oft kriegen die schon was geschenkt?

Unterdessen hat auch Pfarrer Sieber die Parknank angesteuert. Jedenfalls gleicht er ihm aufs Haar. Ich denke nicht, dass er es ist, will ihn Urs nennen. Seit bald 40 Jahren schon sei er Sozialarbeiter, sinniert Urs. Er habe vieles gesehen, auch viele gehen sehen, teils mit der Nadel noch im Arm. Urs ist belesen, zitiert aus der griechischen Mythologie. Ein kluger Mann. Die Silvia, die sei aus der Psychiatrie, weiss er. Silvia singt unterdessen „Sailing“, von Rod Stewart. Ein wunderschönes Lied. Es ist kaum wiederzuerkennen. Ich versuche, mitzusingen.

Unterdessen schnappt sich Karol meinen Fuss. Fussmassage ist angesagt, das Wellnesspaket zum 1. August. Es ist mir nicht ganz wohl dabei, aber ich will ihn nicht vor den Kopf stossen. Urs erzählt derweil weiter aus seinem Leben. „Der hatte keinen roten Rappen mehr, weder für die Unterkunft, noch für den Heimflug. Da hab ich ihm 800 Franken geliehen.“. Er schüttelt den Kopf. „Monate später hab ich ihn angerufen, da hat er am Telefon seine Stimme verstellt, hat sich für seinen Bruder ausgegeben. Also bin ich vorbei gegangen. Ich klopfe, er macht auf, lässt mich rein. Geht schnell weg, und wie er wieder kommt, hält er mir eine Waffe an die Nase. Stell dir das vor, direkt ans Nasenloch!“. Ich will’s mir lieber nicht vorstellen.

Ich weiss nicht, was wahr ist an all den Geschichten, die ich an diesem Abend zu hören bekomme. Egal, denn ich weiss noch etwas nicht: Wann ich das letzte Mal so herzlich aufgenommen wurde. Vielleicht ist es wirklich so, wie ein Freund meinte: Wer nichts zu verlieren hat, kann auch offen sein. Dann wünschte ich, die Menschen hätten nicht so viel zu verlieren. Die Welt wäre eine Bessere. Hab ich erfahren, was ich wissen wollte? Eigentlich nicht. Aber es war ein schöner Abend.

Die Sonne ist längst am Horizont verschwunden. Urs steht unvermittelt auf, geht davon. Nach einigen Schritten dreht er sich nochmals um: „Hör auf mich. Lass die Finger von Drogen“. Sagt’s und verschwindet in der Nacht.

Bündner auf dem Kriegspfad.

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steinbockZeitung, Handy, Schuhspitzen. In Zürich blicken die Menschen überall hin, aber selten in die Augen fremder Leute. Was also tut die pragmatische Single-Frau von heute? Sie geht online. Vielleicht findet sich dort ja ein Gspänli? Man muss dem Schicksal Gelegenheit geben. Bald schon flattern Dutzende Nachrichten in die Mailbox. Von Herren, die entweder meine Väter oder Söhne sein könnten oder solche, die sicher, mh, nett sind. Ab und an findet sich einer, der den Kinderschuhen entwachsen ist und noch keine AHV-Rente bezieht, ja den gar ein passables Foto ziert, auch wenn es vielleicht seinen Cousin zeigt. Kann man ja mal näher anschauen. Dummerweise folgt meist nach wenigen, nichtssagenden Sätzen die Frage, ob ich ihn denn nicht gerne noch gleichen Abends daheim besuchen möchte.

Ich will nicht nach Hause bestellt werden, als wäre ich eine Pizza! Prominent platziere ich meinen Unmut im Profil. Ich gebe zu, meine Feder ist nicht für alle Gemüter gleich verträglich, erst recht nicht, wenn mir der Kragen platzt. Und so schreibt mir bald Attila, der Hunnenkönig. Wirres Haar, voll tätowiert. Der Blick sagt: „Ich hau dir gleich eins in die Fresse“. Ich sei arrogant, meint er grimmig, mit 20 Ausrufezeichen. Bald folgt ein zweiter Herr mit finsterem Antlitz: „Eine alte blöde Tussi und obendrein hässlich, die Lippen sind sicher gespritzt“. Der Dritte, ein grobschlächtiger Kerl um die 40, bläst ins gleiche Horn. Ungefragt erklärt er, er wolle junges Gemüse, kein altes. Und eben, die Lippen. Ich bin bestürzt. So viel Boshaftigkeit, nur weil ich etwas Respekt gefordert hab? Andererseits, wir leben in einer Welt, in der Frauen in Kellern festgehalten und auf offener Strasse Köpfe abgehackt werden. Ist es nicht etwas naiv, sich wegen einiger gehässiger Nachrichten aufzuregen? Und sowieso – den Pilznasen bin ich doch haushoch überlegen. Vielleicht nicht beim Holz hacken, aber sicher im Schreibkrieg. Ich krieg mich wieder ein, sehe, dass die Herren allesamt Bündner sind. Einer indes aus Zürich, aber auch der schreibt mit Bündner Dialekt. Ha! Ein Komplott aus dem Land der Steinböcke. Denen steckt meine Rede wohl wie ein Pizokel im Hals – jetzt kriegen sie einen dicken Kopf.

Bald stimmt der vierte Bündner, ein dicklicher Typ, ins selbe Lied ein. Ich bin kampfbereit und haue in die Tasten:
„Huh! Noch n’Bünder mit Lippen-Aversion? Gott, muss ich euch eingefahren sein, dass ihr euch so ne Mühe macht. Zugegeben, etwas lästig seid ihr schon, so wie die ganzen Mücken im Moment. Kommen die auch aus dem Bündnerland? Ich kann ja verstehen, dass ihr den Anblick voller Lippen nicht kennt. Ihr seht wohl nur schmallippige Damen, weil die sich das Lachen verbeissen. Dein Kumpel meinte, er stehe auf Gemüse, was klar ist, da seine kognitiven Fähigkeiten jene einer Zucchetti nicht zu übersteigen scheinen. Trotzdem weiss ich nicht, was ihr für’n Problem mit gespritzten Lippen habt, wenn sie’s denn wären – hab die Tage Bildli von mindestens einem Bündner gesehen, der aussieht, als hätte er selber den ganzen Kopf gespritzt. Mit Gips. Eigentlich kenn ich euren Kanton als gemütliche Leute, echt, ich mag euch, aber vielleicht hatte Mike Müller doch recht mit den zusammengewachsenen Fingern (ihr wisst schon, Inzest und so – n’bisserl fies, aber hey, ich hab den Witz nicht erfunden!). Auch wenn eure Nusstorte super ist, muss ich von den Nüssen nicht zwingend angeschrieben werden, vor allem nicht, wenn sie hohl sind. Nicht böse sein, war uh lustig mit euch :-D“.

Ich rechne damit, von halb Graubünden gedisst zu werden und meinen Account erst mal löschen zu müssen, aber nein. Bis jetzt herrscht Stille. Wer weiss, vielleicht sind Gian und Giachen schon unterwegs, um mir die Hörner in den Hintern zu rammen?

Haarig.

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387745_2810031378248_812161715_n„Wenn es sich so kräuselt, wäääääääh!“. Das kleine Grüppchen Männer und Frauen verhandelt gerade die „haarigen Geschöpfe“, wie meine liebe Freundin Melanie das männliche Geschlecht zu nennen pflegt. Haare auf der Brust – da scheiden sich die Geister. Für die Beine besitzen Radfahrer eine Ausnahmebewilligung, und unter den Achseln – also bitte! Pelz ist in der Neuzeit nicht nur bei Peta verpönt, und ja, es geht jetzt auch den Herren ans Fell. Die letzte Tabuzone ist gefallen. Haare auf den Zähnen werden nicht toleriert, in der Suppe ebenfalls nicht, und frei von Hemmungen richtet sich der kritische Blick auch auf jene Körperstelle, wo manche beim männlichen Geschlecht den Denkapparat wähnen. Von Grundsatzdebatten verschont wird in diesem Gespräch einzig die Frisur auf den Köpfen. Obschon es da weitaus mehr Gesprächsstoff gäbe.

„Gott, wie banal“, höre ich einige von euch stöhnen. Nicht unbedingt. Frühkindliche Traumata nach der Lektüre des „Struwwelpeters“ lassen das Volk zu den Frisören strömen, was selbigen Haare ins Lavabo und Geld in die Kasse spült. Wer sich im Schweisse seines Angesichts den Sommerlook schneiden liess, kann das Erlittene vermittels Extensions binnen zwei Stunden wieder rückgängig machen. Die Herren unterstützen die Pharmaindustrie mit dem Kauf ominöser Wässerchen, zumeist erfolglos gegen das schwindene Deckhaar. Haariges Ungemach drohte auch im Mittelalter: Da wurden die Schäfchen zur Strafe und Demütigung am Kopf geschoren – und auch heute noch nimmt man in den Gefängnissen gewisser Staaten den eingebuchteten Damen die wallenden Locken ab, um es an westliche Frauen mit ungewollt kurzem Pagenschnitt weiterzureichen. Auch René Kuhn, der grosse Frauenversteher, weiss etwas zum Thema beizutragen: Er rügte die Damen der Linken kurzum kollektiv als verfilzte Vogelscheuchen. Seither habe ich schon viele linke Damen gemustert, um den Unterschied zwischen ihren und den Haaren politisch rechts orientierter Zeitgenossinnen zu eruieren. Bislang ohne nennenswerten Erfolg. Das einzige zerzauste Exemplar bin ich selbst, aber das wird morgen geändert, im Fall.

„Er hat eine Frisur wie Dachziegel – so aufeinander geschichtet“. Meine liebe Freundin Anna hat einen Neuen. Ich weiss nicht, welche Botschaft eine Ziegelfrisur transportiert, ausser vielleicht „Ich hab keinen Dachschaden“?. Grundsätzlich aber sind Frisuren ein Statement, sei’s mit kahlgeschorener Glatze oder Rastas. Ich erinnere mich an das Entsetzen meiner Eltern, als ich Marco mit den blauen Haaren nach Hause brachte. Heute ist die Gefahr provokanter Haarpracht weitgehend gebannt. Vielmehr liest sich die Standardbotschaft von Menschen über 35 mehrheitlich als: „Ich bin ganz brav“ – warum man so freiwillig auf einen kecken Look verzichtet, bleibt mir verborgen. Seriös ist doch nicht gleich langweilig? Anders der Sänger jener hippen Band am Wipkinger Open-Air. Er trug sie seitlich geschoren, oben spiralförmig zu einer Art überdimensionaler Muschel geformt. Sein Kopf wippte im Takt des Beats, und die Muschel wippte mit. Ich war fasziniert. Wenn wir schon bei „hip“ sind: Die ganz Coolen tragen ja jetzt Turnbeutel auf dem Rücken, so wie wir früher zur Primarschulzeit. Ich hab neulich einen gefragt, was er eigentlich da drin hat – Znünibrot, Apfel und Banane? „Bier und einen Pulli“, liess er mich wissen. Das war am Züri-Fäscht, aber die tragen diese Beutel ja auch in den Clubs, wo Bier nicht erlaubt ist und es keinen Pulli braucht. Ich vermute, sie stopfen Styropor rein, damit es so aussieht als ob. Apropos Züri-Fäscht: Dicht gedrängt standen wir in der tanzenden Menge bei der Vogelvolière, Schulter an Schulter mit anderen schrägen Vögeln. Und wie wir uns da so aneinander quetschen, meint meine Freundin Leila  „Stell dir mal vor, die hätten alle Afro-Frisuren – dann würden wir ja oben gar nicht mehr raus sehen“.

Luschen statt Duschen.

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brause„Du, dini Duschbrause isch völlig verkalkt“. Mein Süsser steht tropfend und mit gequälter Miene im Badezimmer. „Das macht ja weh! De Strahl ist total hert. Bring mir mal Essig, ich entkalk dir das jetzt“. Ich winke ab. Es ist 23 Uhr, Entkalken steht gerade nicht auf meiner Prioritätenliste. Sowieso, ist sie zu hart, bist du zu schwach. Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft – ich beschliesse, die Brause ihrer Vernichtung zuzuführen und erinnere mich an den Besuch bei jenem Medium, das vorgab, Jesus zu sein: „Du beziehst deine Kraft aus Farbe – eine Farbdusche wäre gut für dich“. Bingo. Nebst all dem Bullshit mal ne weise Aussage. Ich male mit Farben, schmeisse an indisch orientierten Festivals mit Farbpulver, kleide mich schon mal in Gelb mit Purpur. Keine Frage: Ich dusche auch bunt!

Eine Frau, ein Wort, schon am nächsten Tag durchkämme ich das World Wide Web nach Düsen, die Wasser in buntes Licht verwandeln. Es wimmelt von Angeboten. Ein paar Klicks, Kreditkarte gezückt, die Brause ist mein, und ich harre freudig der Farben, die da fliessen sollen. Eine Woche, zwei, drei Wochen vergeblichen Wartens. Ich beschliesse, nachzufragen.

„Wir haben einen Lieferrückstand auf Ihrem bestellten Artikel“, heisst es, „wir wissen, dass dies ein neuer Lieferrückstands-Rekord ist.“. Okee. Zwei Wochen später klopfe ich nochmals an: „Ich wollt mich mal schüchtern erkundigen, ob dieses Farbduschendings langsam versandt werden kann, oder ob das Ziel ist, mit dem Lieferrückstandsrekord einen Eintrag im Guinessbuch zu erlangen? Mein Lover wird langsam sauer, weil er noch immer mit dem kaputten Duschkopf duschen muss.“
Der Lieferant hat uns Duschen gesendet, die der guten Qualität nicht entsprechen. Da wir keinesfalls möchten, unsere Kunden mit solchen Produkten zu beliefern, warten wir jetzt auf eine andere Lieferung von qualitativen Duschen“. Ich warte also mit.

Wochen vergehen, der Duschstrahl piekst mich noch immer in den Hintern. Mein Süsser ist mir unterdessen auch abhanden gekommen, ich hätte ihn doch das blöde Ding entkalken lassen sollen. Gut, wie man Duschköpfe entkalkt, kann man auf Youtube lernen. Vielleicht müsste man etwas Essig in die Leitung des Online-Shops giessen, damit was geht? Ich beschliesse, nochmals einen Anlauf zu nehmen.
„Grüezi mitenand. Die Tage ziehen ins Land, flugs sind schon wieder 3 Wochen verstrichen. Mein Typ hat inzwischen mit mir Schluss gemacht, ich vermute, es ist wegen der Duschbrause. Ich schlage vor, dass ich von der Bestellung zurücktrete. Ehrlich gesagt zweifle ich, ob ich die Brause von Ihnen noch in diesem Leben bekomme und im nächsten werde ich vielleicht als Wal wiedergeboren und hab meine Dusche schon integriert. Bitte bestätigen Sie mir doch kurz die Stornierung der Bestellung“.

Wieder warte ich, tagelang. Der Online-Shop bleibt stumm. Interessant. Schweigende Männer bin ich mir gewohnt, schweigende Online-Shops noch nicht. Ich beschliesse, etwas geharnischter aufzutreten:
Ich warte immer noch auf eine Bestätigung, dass meine Bestellung storniert wird. Ich bestelle sicher nicht woanders, und dann fällt Ihnen ein, dass Sie die vermaledeite Duschbrause vielleicht doch liefern möchten. Wäre flott, wenn wenigstens das geht, danke.“.
Tags darauf, hurrrrah, eine Antwort: „
Der Lieferant hat uns Duschen gesendet, die der guten Qualität nicht entsprechen. Da wir keinesfalls möchten, unsere Kunden mit solchen Produkten zu beliefern, warten wir jetzt auf eine andere Lieferung von qualitativen Duschen“. Hm. Dieses hervorragende Deutsch hab ich doch schon mal gelesen? Hach ja. Vor einem Monat.

 Konflikte soll man nicht schriftlich austragen. Ich greife also zum Hörer. Schildere freundlich den Sachverhalt, erlaube mir dann aber die Frage, ob man mich veräppeln will?
„Wenn Sie anständig mit mir sprechen möchten, können Sie nochmals anrufen“, bellt es aus dem Hörer, „so reden Sie nicht mit mir!“. Ich bin perplex. Hänge auf. Meine Arbeitskollegin guckt mich mit grossen Augen an. Zum Glück hat sie mitgehört – hab ich was Falsches gesagt? Nein, hab ich nicht! Sie versteht’s auch nicht… Tja. Der hat wohl zu heiss geduscht? Wer ist der Kerl, ich werd mich beim Chef beschweren! Hach blöd, es war der Geschäftsführer. Aber hey, hoch lebe Social Media. Da gibt’s diese supi Bewertungsplattformen. „Meine“ Firma lässt sich da auch beurteilen, und das tu ich jetzt mit Hochgenuss. Und bestelle gleich danach meine Duschbrause – woanders und mit 7 statt 4 Farben. Lieferung: Ein Tag später. Das hab ich mir verdient.

Das Kind.

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8350355167_58bca64fe1_zFettverkrustete Pfannen und Essensreste an Tellern türmen sich im Spültrog. Von den weiss getünchten Schränken des letzten Jahrhunderts blättert die Farbe in Fetzen ab, es gibt vielleicht zwei Quadratmeter Platz in dieser düsteren, dreckbefleckten Küche. In den dunklen Ecken formiert sich antiquarisches Sperrgut zu surrealen Skulpturen. Das bleiche Licht, das durch die trüben Fenster fällt, taucht die Szenerie in unheimliche Schatten. Verloren wie Alice im Plunderland stehe ich inmitten des Unrats und starre auf die verschmierten, schwarz-weissen Kacheln. „Du musst schon den Finger zum A raus nehmen, wenn sie noch herkommen soll“, schnarrt die Kollegin vor mir. Ihr Gesicht ist mir fremd. Ja, ich würde sie gerne sehen, Dolores, meine Freundin. Aber hierher kann ich sie unmöglich einladen. Schlimm genug, ich weiss, was mich erwartet. Die beiden werden mich auseinandernehmen. Und doch wähle ich Dolores‘ Nummer.

Sie klingt unwirsch. „Lass uns doch einen Drink nehmen, in der Kneipe um die Ecke“, schlage ich vor. „Ich hab aber nicht lange Zeit“, murrt es mir aus dem Telefon entgegen, „eine halbe Stunde vielleicht. Ich geh jetzt los, hol euch ab“. In zehn Minuten wird sie da sein – ich renne durchs Wohnzimmer, suche mein Portemonnaie. Wo ist meine Handtasche? Im Wohnzimmer ist es zappenduster. Schemenhaft zeichnen sich Berge von Stühlen, Lampen und allerlei Gegenständen ab. Porzellanpuppen mit starren Gesichtern stecken in Schuhen, glotzen aus Vasen. Hier sieht es aus, als wäre ein Flohmarkt explodiert. Schwere, staubige Vorhänge ersticken den Raum in beklemmendem, dunkelgrün-schwarzem Gräuel. Ich wähne mich in einem Horrorfilm. Womöglich springt gleich Chucky, die Mörderpuppe, hinter einem Schirmständer hervor. Ich finde nie etwas, wenn ich es suche, wühle im Unrat, wo zur Hölle ist mein Portemonnaie? „Chhhhhhhhh“. Ein bedrohliches Geräusch schreckt mich auf. Vor mir krümmt eine Katze ihren Buckel, faucht mich an. Ihre gelben Augen leuchten im Dunkeln.

Es klingelt, Dolores streckt ihren Kopf durch die Türe. „Kommst du?“. Sie mustert mich mit kühlem Blick. Schuhe, ich brauche Schuhe. Schnell schnappe ich nach einem purpurroten Ballerina-Schuh, der vor mir am Boden liegt. Ich schlüpfe in den Schuh, mein Fuss wird feucht. Der Wohnzimmerteppich ist mit Schlamm durchtränkt, er quillt durch meinen Schuh, färbt ihn kotig oliv, während ich mit einer Hand im Matsch tastend nach dem zweiten Treter suche. „Kommst du endlich?“. Der Tonfall ist härter, mein rotes Kleid bekleckert, ich mache einer Sumpf-Fee alle Ehre. Hektisch stolpere ich Richtung Türe, der Schweiss steht mir auf der Stirn, will den Raum verlassen, da höre ich es. „Nicht gehen“. Ich dreh mich um, hinter mir steht ein kleines Kind. Im Dunkeln, mit kurzen Haaren, nichts als ein Nachthemd am Leib. Sein Blick aus grossen Augen trifft mich, es flüstert mit heller Stimme: „Ich bin ganz allein“. Ich fühle mich nach drinnen und draussen gerissen, da dieses Kind, ich kann es so nicht stehenlassen, dort Dolores, die sich zum Gehen wendet.

Meine Augen sind jetzt offen. Wo zur Hölle bin ich? Kein Schlamm mehr, alles ordentlich aufgeräumt. Ich liege in meinem Bett und bin hellwach. Die kleinen, realen Alpträume des vergangenen Tages drängen sich in mein Bewusstsein, vermischen sich mit der klammen Atmosphäre des eben erlebten Traumes. Es fällt mir wie Regentropfen von den Augen. Ich schliesse die Lider, lass mich sinken, zurück in die andere Welt. Der Traum ist noch nicht zu Ende: Das Kind. Jemand muss es dort rausholen. Und dieser Jemand bin ich. 

Wie echt darf ein Mensch sein?

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DSC_0202„Hm, also das würde ich nicht veröffentlichen“. Joël ist besorgt. Ich hab ihm meinen jüngsten Blogbeitrag zum Vortesten geschickt – nee, besonders fröhlich ist der nicht. „Man kennt dich als strahlende, stolze Frau. Das hier wird an dir haften bleiben, man wird dich fortan so sehen“. Ich bin erst mal geschockt, dann wütend. Weil ich weiss, dass er recht hat. Kein Mensch ist so einseitig, dass er nur eine Facette hätte. Aber jene, die am meisten auffällt, daran wirst du gemessen und bewertet. Wir sind ein lustiges Volk von Hedonisten, das Dunkle wird in den Keller verbannt. Das gilt nicht nur für Typen wie Fritzl. Gefühle sind generell verdächtig und mit Bedacht zu äussern. Tut man es trotzdem, und ich kann einfach nicht anders, erntet man bestenfalls komische Blicke, schlimmstenfalls wird man gemieden. Manche finden keine Worte, wenn du das Dunkle, Leidvolle aussprichst. Sie finden die Worte, sobald du ihnen den Rücken gedreht hast – dann nämlich, wenn sie dich bei Dritten verhandeln. Gewisse lachen dich aus, sagen „solche Probleme kenne ich nicht“ oder „ich kann das halt besser ertragen“, suhlen sich im Gefühl, überlegen zu sein. Will man solchen Menschen eine Steilvorlage bieten?

Die Sache ist nur – ist eine Welt voll von gottverdammten Fassaden lebenswert? Ist es nicht eben von Wert zu sehen, dass auch andere stolpern, hadern und mit den selben Problemen kämpfen? Sind nicht jene die wahren Helden, die ihr Schiff bei starkem Seegang lenken, ihre Bürde mit Würde tragen? Wieviel Tiefgang kann jemand haben, der keine Tiefen hat?

Ich denke oft an Beat. Er weiss es wohl nicht, aber er ist mein Vorbild. Schon optisch hob er sich von der Menge ab, mit langem Haar, stets schwarz gekleidet. Man traf ihn an Parties, bei deren Erwähnung den Bravbürgern der Atem stockt. Er selber freilich machte keinen Hehl daraus. Kompromisslos authentisch. Beat lebte intensiv. Selber wirkte er dennoch ruhig, überlegt, reflektiert. Als er durch ein Schicksal in der Familie einen Rückschlag erlitt, da hat er vom wilden Leben Abschied genommen. Ein Mensch mit Verantwortungsbewusstsein. Eine Führungskraft. Seine ganze Abteilung leitete er mit Herz, Verstand und viel Feingefühl. Wer immer ihn kannte, respektierte ihn trotz seiner Andersartigkeit. Weil er das Rückgrat hatte, zu sich zu stehen, was immer auch andere darüber denken mögen. Und weil er tief in sich hinein blicken liess, direkt in sein grosses Herz.

Auch Rebekka, die hübsche, sympathische junge Frau, bringt mich ins Grübeln. Sie ist Alkoholikerin. Eines Tages stiess ich auf ihren Blog, der mit ehrlich gewählten Worten all ihre Abstürze beschrieb. Im Detail. Was in ihr vorging angesichts der leeren Flaschen, die sich in ihrem Hause türmen. Ein Scherbenhaufen, nicht nur aus Glas. Ihre Scham darüber, was sie alles angestellt hat während ihrer Filmrisse. Das Bedauern, viele Menschen durch ihre Krankheit verletzt zu haben. Ihren Kampf, ihre innere Zerrissenheit. Worte einer sensiblen, intelligenten Frau. Dank ihren Zeilen konnte ich sie ein bisschen verstehen. So viele blicken auf solch einen Menschen vom hohen Ross mit Verachtung herab. Für mich hat sie durch ihre Offenheit an Grösse gewonnen.

Ja, Joël hat nicht unrecht mit seinen Bedenken. Und das macht mir Angst. Der Mensch wertet, reduziert, verzerrt. Wer will so eine Karikatur von sich schon sehen? Es ist mir nicht egal, was ihr über mich denkt. Ihr habt keine Ahnung, was ihr deswegen an geilen Blogs schon verpasst habt. Der erste Besuch einer *** beispielsweise, oder dieses völlig skurrile Stelldichein im ***. Gar nicht zu sprechen von der durch und durch komischen Geschichte einer komplett missglückten ***. Trotzdem. Es ist ein Unrecht, dass er damit recht hat. Und deswegen bring ich den Blogbeitrag trotzdem. Bald.

Wie man ein Date verpennt.

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rauchHeller Rauch steigt auf, vernebelt sein Antlitz und wohl auch Teile seines Denkapparats. Nein, mit dem neuen Papst hat das nichts zu tun. Seine Finger umklammern einen Joint, er nimmt einen weiteren tiefen Zug. Vor uns liegen die leer geschmausten Teller. So richtig leicht ist es mir nicht gefallen, die Einladung zum Essen anzunehmen. Heutzutage ist ja nie ganz klar, wer oder was gefressen werden soll. Ab wann muss man nicht mehr damit rechnen, zerstückelt und gepökelt im Gefrierfach zu enden? Noch aber hat er das Beil nicht ausgepackt. „Lass uns mal fernsehen“. Er trottet auf das Sofa zu.

Er knautscht sich wie ein Mehlsack in das quietschende Leder. Zielstrebig zaubert er mit der Fernbedienung Mike Shiva, den Helden der Zukunftsprognosen, in den Flimmerkasten. „Meine Lieblingssendung, ich lach mich jedesmal schlapp“. Seine Augen glänzen. Ich überlege, selber Shivas Nummer zu wählen, um nachzufragen, wo dieser Abend hinführen soll? Neben mir gluckst und wiehert es unablässig. Ab und an wiederholt er die Worte des Wahrsagers: „Die anderen sind Scharlatane, hua hua“. Mein Blick gleitet über das kahl eingerichtete Wohnzimmer – wo bitte ist die Kamera versteckt?

Die Position des Fernsehers macht es unmöglich, Shiva und den Typen gleichzeitig im Blickfeld zu halten. Ohnehin ist einer so skurril wie der andere. Plötzlich werd ich stutzig. Es hat gar nichts gekichert, die letzte Minute? Ein Blick zur Seite – was zum Henker…? Der Typ ist weg. Eingepennt. Was jetzt? Rütteln und schütteln? Wie das Bäumchen bei Aschenputtel? Shiva voll aufdrehen? Bloss – was will ich mit nem miesmuschligen, verpeilten Mannsbild? Ich schinde Zeit um die Gedanken zu ordnen, spüle erst mal das Geschirr. Vielleicht weckt ihn das Klappern? Eben sackt er ne Handbreite tiefer ins Sofa ab. Ob er wohl wirklich schläft? Vielleicht tut er ja nur so – welch eine Demütigung wäre das?! Meine Gedanken erschrecken mich. „Frau Klinger, jetzt wirst du paranoid“, schimpf ich mit mir. Sein Gesicht ist leicht zur Seite geknickt, wirkt jetzt zerknüllt. Wozu hab ich meine Haare malträtiert, mein Näschen gepudert, ewig vor dem Schrank gestanden? Er streckt einen Fuss von sich. In der Socke klafft ein riesiges Loch. Ich weiss jetzt, was zu tun ist. Setz der Kollegin mal ne Nachricht ab: „Er pennt“. Ne Minute später piept es: „Wie bitte???? Bin im Hive“. Ich mach ne Fliege. Irre durch die Nacht, es ist finster im Industriequartier. Wo nur geht es zum Bahnhof? Plötzlich durchbricht ein Klingeln die Stille. Der Siebenschläfer ist aufgewacht. „Ich bin so ein Arschloch“, jammert er mir ins Ohr.

Zwei Wochen Funkstille. Dann kotzt er mir sein Elend in die Facebook-Mailbox. Es bricht aus ihm heraus, eine wahre Textflut. Beschreibt, wie er sich zudröhnt, um die Freudlosigkeit nicht zu spüren. Abgelöscht, depressiv. Meist will er einfach allein sein. Deswegen habe er sich auch schlafend gestellt. Ehm, moment mal: Schlafend GESTELLT??? Ein wahrer Komiker scheut auch die schrägste Nummer nicht. Schwer, sich nicht clownesk zu fühlen, wenn man zum Kasper solch eines bizarren Schauspiels erkoren wird. Es geht mir da wie vielen, Männern wie Frauen, und auch nicht zum ersten Mal. Meist wird ja einfach die Antwort verweigert. Das Stockfischsyndrom hat epidemische Ausmasse erreicht. Schweigen, die Waffe der Überforderten und kommunikativ Schwachen. Er immerhin erklärt sich. Es hat nichts mit mir zu tun – dass er’s mich wissen lässt, setzt der Scheisse ein Quantum an Grösse entgegen. Ist man dumm, wenn man Menschen ne zweite Chance gibt? Die er freilich verbockt, und bei seinem dritten Anlauf mag auch ich nicht mehr. Wenn einer lebt, als würde er lustlos im Teller rumstochern, ist man nie mehr als ne Erbse, die hin und her geschoben wird. Erbsen kann man zählen oder drauf liegen, aber das Märchen, in dem die Heldin selber ne Hülsenfrucht ist, gibt’s leider nicht.

Des einen Kuss, des andern Verdruss.

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kissIhr dickes, schwarzgraues Haar steht wirr in alle Richtungen. Einst war sie eine hübsche Frau. Davon sind nurmehr einzelne Fragmente zu sehen, ein Paar muntere, dunkle Augen etwa, die unter ihren buschigen Augenbrauen hervor blitzen. Kaum mehr als Haut und Knochen, den Rücken leicht zum Buckel geformt, schlurft sie durch die Küche. Ein dürres Fraueli mit schalkhaftem Blick, ein kleiner Kobold. Sie verlässt ihre Wohnung kaum, schon seit Jahren igelt sie sich ein. Ihre Verbindung zur Aussenwelt ist das Fernsehgerät. Mitten in der Nacht lässt sie den Wecker klingeln. Wrestling. Sie liebt es. Live übertragen aus den Staaten. Dafür kann man schon mal um 3 Uhr aufstehen, auch mit über 70 noch.

„Wo sin mini Frösch?“. Sie kramt nach ihren Zigaretten, versucht, sich eine anzuzünden. Ihre Hand zittert, sie zielt. Zwei, drei Mal knapp am Glimmstängel vorbei, dann merkt sie, dass sie ihn verkehrt in den Händen hält. Vor ihr steht ein Glas Rotwein, sie nimmt einen grossen Schluck. Sie war schon immer ein fröhlicher Mensch, meine Grossmutter, gesellig im Wesen. Sie spricht mit rauchiger Stimme und wenn sie lacht, klingt es, als würde Rod Stewart husten. Vor einigen Jahren, an ihrem Sechzigsten, da hat sie noch kräftig gefeiert, mit buntem Glitzerspray im Haar. Zu meiner Verlobung (nein, ich will nicht darüber sprechen!!), da hat sie getanzt. Ein zartes Blümlein ist sie keines, immer gerade heraus, fordernd und nicht eben zimperlich in der Wahl ihrer Worte. Die Spitex hat sie erfolgreich in die Flucht geschlagen; zu stolz, um sich helfen zu lassen. Viel gibt sie nicht preis, von sich und ihrem Leben. Wenn sie von früher erzählt, in meinem Beisein, dann von mir und der Zeit, als ich noch bei ihr ein und ausging. Jetzt lobt sie mich, freut sich, dass ich hier bin, in Begleitung meines neuen Freundes. Ich schäme mich, denn ich bin viel zu selten da.

Der junge Herr an meiner Seite wirkt seltsam betreten. Schon klar, der Besuch bei der Grossmutter ist nicht der Traum eines 25-jährigen Kerls. „Du hesch soone schöne Fründ“, klatscht Oma begeistert in die Hände. Ich bestaune gerade das Blumengesteck, ein Geschenk meines Onkels. Mein Süsser ist errötet und Oma grinst spitzbübisch. „Ein wahrhaft schöner Mann“, wiederholt sie entzückt. Ich bin leicht erstaunt; er ist keiner, wie man ihn dem Geschmack einer älteren Dame zuordnen würde, eher zart, mit femininen Zügen, jungenhaft. Lange kann ich ihm den Besuch nicht zumuten, es ist ja nicht seine Familie. Jetzt tut es mir leid, Oma wieder zurückzulassen. Keine Ahnung, wie oft sie Besuch bekommt. Mein Vater ist ab und zu dort, vermutlich nie lange. „Du weisst ja, wie er ist,“ pflegt sie zu sagen, „kurz und barsch“.

„Ich hoffe, das war so ok für dich“, erkundige ich mich schüchtern, wie wir das Haus verlassen. „Es war schon ok“, schnaubt er, „aber jedes Mal, wenn du weggeschaut hast, hat sie versucht, mich abzuküssen“. In mein Gelächter mag er nicht so recht einstimmen „Wirklich, jedes Mal, wenn du nicht geguckt hast!“. Er schüttelt fassungslos den Kopf. Ich erinnere ich mich: Damals, als ich ein kleines Mädchen war, im Kindergarten, da hab ich auch immer versucht, mein blondes Gspänli zu küssen, den Alain aus Frankreich. Jedesmal, wenn niemand geschaut hat. Das fand der gar nicht toll, er hat sich beschwert, die Petze. Dabei war ich so süss!? Hat nichts geholfen, die Kindergärtnerin hat mit mir geschimpft. Ihr seht, im Alter wird man eben tatsächlich wieder zum Kind. Meine Herren, jetzt wisst ihr, was euch dermaleinst erwartet. Nehmt euch in Acht!

Die mühsame Patientin.

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ah„Ausgeprägte Wangenknochen gelten als Schönheitsideal“. Die Ärztin kehrt mir den Rücken zu und kramt nach einem Holzstäbchen. „Ja, aber symmetrisch, nicht einseitig!“. Mein Gesicht ist diagonal angeschwollen. Ich halte nichts davon, wenn mein Antlitz kreativ wird. Wer weiss, was es als nächstes ausheckt? Einen Kornkreis auf meiner Stirn vielleicht, oder möglicherweise lacht mir demnächst Karl Dall aus dem Spiegel entgegen? Nun sitze ich hier in der Permanence und die Frau veräppelt mich. „Sagen Sie mal Aaaah!“ befiehlt sie, und steckt mir den Holzstab in den Mund. „Äääääääh!“ röchelt es aus meinem Hals. „Hmm… das ist knallrot. Sie haben vielleicht Scharlach“. Scharlach? In meinem Kopf singt es. „I baue mir mini Träum uf rund um di und male se scharlachrot a“. Patent Ochsner, das krieg ich für den Rest des Tages nicht mehr los. Kriegt man da rote Pünktchen? Und erklärt das, warum ich zunehmend dem Hulk ähnele? „Nein, das ist keine Erklärung“, brummt die Ärztin und tippt irgendwas in ihren Computer ein.

Scharlachrot ist auch das Blut, das man mir jetzt aus den Venen pumpt. So hab ich mir das nicht vorgestellt! Ich dachte an eine kleine Salbe, fertig. Hab doch nur ne leichte Erkältung, was soll der Aufstand? Wenn es so weiter geht, werd ich noch in die Röhre gesteckt!? „Es ist kein Scharlach!“ freut sich die Ärztin. Ich mich auch. „Sie müssen aber trotzdem sechs Tage lang Antibiotika nehmen“. Ich freue mich doch nicht. 1000 mg, die volle Dröhnung. Sechs Tage lang? Hallo, für das bisschen Halsweh? „Sie haben eine Halsentzündung“. Zustände wie in Nordkorea, sobald einer hustet wird mit ner Atombombe gedroht. „Und was ist jetzt mit meiner Schwellung?“. „Sie müssen eh am Samstag zur Kontrolle vorbeikommen“. Na prima. Hab ich sonst keine anderen Hobbies? Ich weigere mich, desertiere, geh da einfach nicht mehr hin.

Es ist Samstag, Frau Klinger sitzt im Wartezimmer der Permanence. Die Hoffnung, ich müsse die blöden Antibiotika vielleicht doch nicht so lange nehmen, hat mich her getrieben. Diesmal begleitet mich meine Freundin Marlie, um mir die Wartezeit zu versüssen. Letztere wird sehr kurz sein. Ich hab nämlich einen Termin und bin die Erste, welche meine Ärztin empfängt. Hat man mir versprochen. Ehm, vielleicht bis auf diese indische Grossfamilie, welche eben das Praxiszimmer betritt, in dem ich jetzt sitzen sollte. Eine Viertelstunde später ein jüngerer Herr mit schütterem Haar. Danach nochmals Mama Bhavani und ihr Gefolge. Wahrscheinlich kommt nächstens Vater Abraham mit seinen sieben Söhnen – allmählich breitet sich die Röte meines Rachens auf den übrigen Kopf aus. Der innere Widerstand ähnelt dem Ätna kurz vor dem Aufbruch, gleich werd ich zum Rumpelstilz: Ich will keine Antibiotika, will auch nicht hier sitzen. „Ich verbringe hier nicht den ganzen verdammten Samstag“, fauche ich. „Jetzt sind wir da, wir ziehen das durch“, runzelt Marlie streng die Stirn.

Nach einer Dreiviertelstunde werde ich in ein neues Wartegefängnis komplimentiert. Etwa sechs Quadratmeter, acht Verseuchte auf engstem Raum. Ich wünsche mir eine Burka, vergrabe mich in mein Taschentuch, ganz Zicke. Mein Nachbar richtet seinen gelb verschleierten Blick auf mich. Gegenüber chodert es. „Ich will hier raus!“, tippe ich in mein Handy. „Du bleibst dort“, schreibt es aus dem oberen Stock zurück. Eine Art Kranken-Klaustrophobie packt mich, ich schnelle hoch, stelle mich in den Flur. „Setzen Sie sich bitte hin“, bellt die Praxisassistentin. Mir reichts. Ich packe meine Jacke, stapfe die Treppe hoch, schnappe mir Marlie. „Das bringt doch alles nichts“, rufe ich entnervt aus. „Frau Klinger, bitte, Sie sind dran!“. Na gut. Dann bleib ich eben noch ein bisschen. Dracul mustert mich über den Rand ihrer Hornbrille, steckt mir die Nadel in den Arm und zapft mir Blut ab. Dann endlich, die Resultate liegen vor. „Es sieht viel besser aus!“, freut sich die Ärztin. Ich freue mich auch. „Die Antibiotika müssen Sie aber trotzdem bis zu Schluss nehmen“. Ich freu mich doch nicht.

calvin

 

Bündchen, mein grosses Vorbild.

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Wpippieisser Rauch steigt auf, ein Vorbild ist geboren. Ein einfacher Mensch, so heisst es. Einer, der sich für die Armen engagiert. Wir reden vom Oberhaupt einer Religion, die sich der Nächstenliebe verschrieben hat. Ich bin verwirrt. Hat sich das Dorf je gefreut, dass der neue Bäcker gerne Brötchen bäckt? Der Papst fordert Respekt und Achtung für alle Lebewesen, gleichzeitig hält er die Homosexualität für einen Schachzug des Teufels, sät damit Ablehnung und Intoleranz in den verworrenen Hirnen und Herzen mancher seiner Schafe. Eine gute Seele, die sich in eine schizophrene Umgebung verirrt hat? Kann einer Vorbild sein, der in der Rede widersprüchlich bleibt und dessen Hände im Handeln gebunden sind? Einer, der selbst sein Speckbesteck in Spiez noch zu spät bestellt?

Wer denn mein Vorbild sei, werde ich eben gefragt. Ich bin an nem Seminar zum Thema Job und Geld, auf der Suche nach Fähigkeiten, die mich weiter bringen. Wenn es um Geld geht, setze ich voll auf Pippi Langstrumpf. Mit dem Koffer voller Gold würde sich mein Liquiditätsproblem erübrigen, und auch menschlich hat sie ein Herz aus Gold. Ganz geil, wie sie um die Meinung anderer foutiert. Und hey, wir sind etwa gleich gut in Plutimikation. Okay, manche Menschen nehmen sich den Affen zum Vorbild. Man sehe sich nur die italienische Politik an. Sich das Pferd zum Vorbild zu nehmen, davon hingegen müsste man heute eher abraten. Wer will schon als Lasagne enden?

Im Seminarraum fallen eben grosse Namen. Eine der Teilnehmerinnen identifiziert sich mit Gandhi. Eine mutige Wahl, im Taser-Zeitalter. Wie oft sie sich wohl  von der Polizei hat niederknüppeln lassen? Auch Mandela wird genannt – alles ganz herausragende Männer, kein Zweifel. Aber müsste ein Vorbild nicht irgendetwas mit mir und meinem Leben zu tun haben? Ich selber schwanke noch zwischen Gisèle Bündchen und Lisa Randall. Oder ist es nicht vielleicht doch meine Freundin Leila, die für jeden noch so abgefahrenen Scheiss zu haben ist und dabei mit beiden Beinen am Boden steht; intelligent, differenziert, neugierig und fair. Oder Angélique, die den Stürmen des Lebens die Stirn bietet. Strauchelt, wieder aufsteht, zu voller Grösse. Mit einem warmen, gütigen Herz, Verstand und ganz viel Humor. Oder alle beide, volle Frauenpower, so wie Pippi eben?

Vielleicht noch ein bisschen Testosteron in meinem Vorbilder-Portfolio? Jener Typ mit der aufrechten Haltung, das Paket pure, gebündelte Kraft: Natürliches Selbstbewusstsein und Entschlossenheit liegt in seinem Blick, wenn er von seinen Plänen spricht. Eine Stärke, die von innen kommt. Diese Eigenschaft fehlt mir. Oder jener lebensfrohe Wildfang, der den Augenblick geniesst ohne ihn festhalten zu wollen und ohne zu fürchten, er könnte nicht wiederkehren. Auch davon könnt ich etwas mehr gebrauchen. Allenfalls noch jener zärtliche, einfühlsame Mann, der sich nicht fürchtet, Gefühle zu zeigen – der einfach sich selber ist, echt und authentisch. Ich selber trau mich noch nicht mal, meinen Respekt auszusprechen vor dem, der alle diese drei Männer in sich vereint. Er sitzt gerade neben mir und fragt mich nach meinem Vorbild. Ich habe keins, aber eins weiss ich: Die Allerbesten sind in unserer Nähe.

Ein Stück Normalität.

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flohmarktSie türmen sich vor mir auf, zwei grossgewachsene Männer, wild und urtümlich. Eine ausladende Pracht kunstvoll drapierter Dreadlocks und ein ungebändigt wuchernder Bart zieren den einen. Seine graue, zerschlissene Hose hat er unterm Knie mit Sicherheitsnadeln zusammengeheftet. Die Problemlösungsmethode könnte von mir sein. Grobe Wollsocken stecken in abgetragenen Schuhen, wollen nicht so recht passen. Dennoch hat der Look mit der bunt gemusterten Weste einen eigensinnigen, ansprechenden Stil. Sein Gegenüber hat die Kapuze seines Sweaters tief ins Gesicht gezogen, blonde Strubbelhaare und ein rötlicher Dreitagebart wachsen darunter in alle Richtungen. Die beiden sind schwer bepackt. Der Blonde trägt eine riesige Schüssel mit sich, und aus den prall gefüllten Säcken ragt eine Pfeffermühle und ein Kerzenständer. Es ist Samstag. Am Bürkliplatz ist Flohmarkt, man sieht’s.

Kurz ruht der Blick des Blonden auf mir, zwei grosse blaue Augen wärmen mein Gesicht. Die Frage schiesst mir durch den Kopf, was sie wohl von mir halten mögen, ich mit den goldenen Schühchen, wie immer kräftig geschminkt; Sinnbild des Kapitalismus, weit entfernt vom Natürlichen. Die Dame neben mir steht auf, steigt aus. Ich rücke nach, Fensterplatz. Nun setzt sich der Dunkle neben mich hin. Ich spüre den fragenden Blick aus runden, braunen Augen und ziehe meine Stöpsel aus den Ohren. „Wir waren auf dem Flohmarkt“, setzt er jetzt an, mit sanfter Stimme und in gepflegtem Hochdeutsch. Er deutet auf die Taschen. „Eine grosse Ausbeute habt ihr gemacht, wie es scheint“. Er wiegt den Kopf hin und her und korrigiert: Was er wollte, habe er nicht gefunden. Kenne ich – man sucht eine Hose und findet fünf Paar Schuhe. Eine Zivilschutzjacke, das sei sein Wunsch. Die sei besonders schick, lacht er. Auch einen Samsonite-Koffer hätt er gern gehabt. Das Markenbewusstsein überrascht mich. Dafür hat er Schmuck gefunden, „glitzernden, glänzenden Schmuck“. Er strahlt. „Jetzt haben ja alle so ein weisses iPhone“, schmunzelt er, und da habe er sich auch eins gekauft. Mit breitem Grinsen zupft er ein grosses, rundes Plastikei aus der Tüte. Es ist in der Mitte zusammengesteckt und kann in zwei Hälften geteilt werden. „Da fehlt noch ein Schnürchen, und dann funktioniert das auf kurze Distanze hervorragend“, freue ich mich mit ihm und die Idee kommt an: „Das mach ich“, nickt er begeistert seinem Kollegen zu. Wieder deutet er auf die Tasche: „Eine Backform hab ich auch gefunden!“. Auflauf sei nämlich seine Spezialität; Lasagne mit roter Beete. Da hat es bestimmt kein Pferdefleisch drin. Er nickt und ergänzt: Da sei doch Industriefett zur Biodieselherstellung im Tierfutter gefunden worden. „Und dann werden tonnenweise Lebensmittel verbrannt, um Treibstoff herzustellen, wo man doch die Schweine damit füttern könnte“. Der Mann lässt einen aufmerksamen Intellekt erahnen. Ich indes frage mich, ob es überhaupt noch eine Rolle spielt, womit man sich vergiftet.

Letzigrund. „Jetzt müssen wir raus“, meint er, „weiter zum nächsten Flohmarkt“. Eine junge Frau mustert uns, lächelt süffisant. Es ist ungewohnt im Zürcher ÖV, dass Menschen miteinander sprechen. Ich wünsche den beiden viel Erfolg und bedaure ein bisschen, dass die Fahrt nicht länger gedauert hat. Traurig eigentlich, dass dieses kurze Erlebnis von Menschlichkeit ein kleines Highlight und Grund genug für einen Blog ist. Ich wünschte, es gäbe mehr unbefangene Menschen wie diese, und ich wäre eine davon.

Farbklecks.

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bildSie sitzen im Kreis und blinzeln erwartungsfroh in die Runde. Zwanzig Frauen – nein, hier gibt es keine Tupperware-Party. Es ist mein erster Schultag, ohne Zuckertüte und Schulranzen, dafür mit neu glänzenden Pinseln. Zwei Generationen treffen aufeinander, nur Männer sind rar unter den angehenden Mal- und Gestaltungstherapeuten. Meine Augen schweifen über die Gesichter. Manche von ihnen werde ich bis ins Innerste entdecken. Miteinander lachen, zusammen weinen, uns verändern in einer Ausbildung, bei der das Lernen auf einer tieferen Ebene stattfindet. Der Blick bleibt hängen: Sie da schräg gegenüber, farbenfroh gekleidet, ein gutes Stück älter sein als ich. Sie leuchtet von innen heraus, durch ihre Augen. Als sässe die Sonne in ihrem Bauch. Ich freue mich.

Vor uns auf dem Parkett liegen kreuz und quer bunte Postkarten. „Sucht euch eine davon aus“, lautet die Aufgabe. Die Vorstellungsrunde lässt unbeantwortet, wer wir sind und was uns hierher geführt hat. Nur: „Warum hast du diese Karte gewählt, was hat sie mit dir zu tun?“ Meine zeigt einen orange leuchtenden Goldfisch, einsam im kühlen Blau des Wassers. Lebensfreude und Tiefgang vereint, warm und kalt, die Farbtöne kontrastieren.

Die Farbe klebt überall an den mit Holz ausgekleideten Wänden und verströmt einen süsslichen Mandelduft. Wir binden uns grosse Schürzen um. Auf kleinen Tischchen reihen wir säuberlich Wasser, Schwämmchen und Pinsel nebeneinander auf. Es bleibt uns überlassen, welche Nuancen wir auf unsere kleine Tafel tropfen wollen. Am Ende soll das gemalte Bild die Gefühle zum Ausdruck bringen, die das Motiv auf der Postkarte in uns auslöst.

Für einmal will ich auf kraftvolle Farben verzichten. Nebulös dunkel wie das Ungewisse soll mein Bild sein, nur von Alice, dem Wunderfisch farbgetupft. „Ich möchte in die Tiefe gehen“, hörte ich mich sagen und gleichzeitig hab ich mich gefragt: Will ich das wirklich? Der Winter war kalt und dunkel die letzten Jahre. Bleischweres Gefängnis. Jetzt bin ich frei, will auf Wolken tanzen, singen und feiern bis der Morgen graut. Nein, ich will nicht auf Grund sinken, nicht jetzt, solange das Wasser kalt ist.

Ein kleiner Klecks Orange und etwas Grün verirren sich auf meine Farbpalette. Ja, auch ein bisschen Rosa, fürs Lustprinzip. Ich klebe die fischverzierte Ansichtskarte in die Mitte eines überdimensionierten Papierblatts. Der Pinsel haucht helles Apricot ins unschuldige Weiss, noch mehr Pastell mischt sich dazu. Ich habe nicht mehr gemalt, seit es mir wieder gut geht. Ich versteh mich nicht; satt müssen Farben sein, intensiv wie das Leben. Was mach ich da? Bonbonartige Blasen formen sich auf dem Blatt, in süsslichen Tönen. Leicht und klebrig wie Frappée fliesst die Farbe übers Blatt, weich wie die Schleier einer orientalischen Tänzerin. Ich mag kein Rosa. Pinkige Schweine, Barbie, alberne Mäntelchen malträtierter Chihuahuas. Jetzt aber macht sie mir Freude. Ich wollte doch noch eine dunkle Seite… Zögerlich tauche ich den Pinsel ins trübe Schwarz, mische es mit Grau. Harte Striche, irgendwie kackt’s mich an, dieses Finstere. Zu lange drohte sie mich zu verschlucken, die Bestie. Das Malen fällt mir schwer, dickflüssige Tropfen landen auf dem Tisch. Ein paar wackelige, krumme Beisser krieg ich nur hin. Zu grob der Pinsel, das Gouache nicht deckend. Lächerlich, das verrotten stinkende Maul meines Tiefseemonsters. Ich will Rosa. Jetzt. Ich türme die Farbe wie Erdbeer-Softeis auf meine Palette. Der Pinsel genügt nicht, auch der Schwamm streichelt zu zart aufs Papier. Ich will baden in Rosa, versinken in Zuckerflausch, will Seifenblasen in die Luft pusten, Marshmellows an die Wand tackern. Tauche meine Hände in rosa Farbe und schmiere damit übers Bild. Brüll mir nur in den Nacken, du Vieh, ich weiss dass du da bist – kann dich hören, muss nicht, stelle mein Grundrauschen lauter. Durch diese maroden Beisser schlüpf ich noch jedes Mal durch.

Bildbesprechung. Jetzt sitzen wir auf Schemeln vor den Bildern, lassen sie setzen, in uns versickern. Jede erklärt ihr Werk, die andern fügen hinzu, was ihnen dazu durch Kopf und Bauch geht. Neue Blickwinkel, eine andere Perspektive. Was anklingt, darf bleiben, was nicht, soll weiter ziehen. Jemand bringt es auf den Punkt, ich seh’s erst jetzt: Der Fisch schwimmt in die richtige Richtung.

Sportklecks.

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ski„Gehts heit ned zum Schifoan?“ fragt mich die Hotelière mit missbilligendem Unterton. Man sieht’s ihr an, innerlich schüttelt sie den Kopf. Zum dritten Mal in Folge ächze ich zur Mittagszeit erst aus dem Zimmer, alle anderen sind längst im Schnee. Hab stundenlang getanzt in der Nacht zuvor. Dabei bewege ich mich wesentlich mehr, als wenn ich die Piste runtergurke. Für die Meisten zählt das dennoch nicht als redliche Leibesertüchtigung. Für meinen Körper schon. „Sie haben die Werte von jemandem, der regelmässig Sport macht“, sagt mein Arzt. Trotzdem: „Warst heut nicht Skifahren?“, jedes Mal, wenn ich ohne Skischuhe im Après-Ski steh. Vielleicht lass ich mir ein T-Shirt drucken: „Nee, ich hab heut mal ausgeschlafen“. „Ich bin drei Stunden in den Hängen herumgewandert“, rechtfertige ich mich kleinlaut und obwohl es steil den Berg hinauf ging und ich dabei geschwitzt habe wie ein Büffel bei der Begattung seiner Herde: Hier wird Ski gefahren, verdammt!

Skifahren. Meine Freundin Lina, zitternd und weinend vor Angst am Start des Skirennens. Die Armleuchter von Lehrern, die zu zweit und unter lautem Ächzen meinen sich sträubenden, verstauchten und demzufolge geschwollenen Fuss in den Skischuh stopften. Ich weiss auch nicht, wo die Typen immer all diese fiesen steilen vereisten Hänge gefunden haben. Als ich in dichtem Nebel vom Bügellift purzelte und für zwei Abfahrten alleine den Hang runterfuhr, da war das Skifahren endlich mal richtig geil. Leider fehlte mir das nötige Quantum Rebellion, um den Bügel inskünftig absichtlich davonflattern zu lassen.

Als schüchternes, eher ruhiges Mädchen widerstrebte es mir dazumal auch, Bälle etwelcher Art mitten in die Fresse geknallt zu bekommen. Ich sah den Sinn nicht, mir das Volleyleder auf meine zarten Handgelenke peitschen zu lassen. Unihockey war ok, da biste wenigstens bewaffnet. Beim Schwimmen zog ich es vor, unter Wasser zu bleiben. Hab denn heute auch nen Tauchschein, aber die dazu nötigen 200m Schwimmen hab ich gerade mal knapp und nur mit Flossen geschafft. Am Sporttag mochte ich am liebsten die Bandansage, die mir morgens am Telefon mitteilte, der Anlass finde wegen der üblen Witterungsverhältnisse nicht statt. Na, und alternativ vielleicht noch das Speerwerfen. Hab mir vorgestellt, der Sportlehrer stehe da vorn.

Selbst wenn Sibylles ausgerenkte Mittelfussknochen meinen Verdacht bestätigen, dass Churchill Recht hatte – heute mag ich Sport. Ehrlich! Die Sache ist die – Bewegung ist dann schön, wenn man innerlich dabei aufblüht. Dann, wenn der Körper von sich aus noch ein bisschen mehr leisten möchte, immer noch weiter rennt, kraftvoller tanzt, oder im Duell mit einem Gegner lustvoll einen Weg sucht, zu siegen. Ich bin ein Freigeist, ich brauch das nicht, dass irgendein Arschloch hinter mir steht und mich einen eisigen Hang hinunter treibt. Auch wenn Angst angeblich eine geile Droge sei, wie ich unlängst las. Mama sagte, ich soll die Finger von Drogen lassen. Also. Die Domina, die in die Runde brüllt, ob sie uns die Moves wie Behinderten erklären müsse, damit wir die Choreo endlich kapieren, motiviert mein musisches Naturell nicht zu einem Serotoninausstoss. Auch auf die subtile Art werd ich bei Leistungsdruck bockig: Zum Beispiel, wenn die Übungen im Kreis rennend gemacht werden, damit man der Lücke vor und dem Stau hinter dir deutlich ansieht, dass du die Lahmste bist. Besonders desolat, wenn du das eigentliche Training magst und das Handtuch wirfst, weil du dich beim Aufwärmen wie ein Vollidiot fühlst.

Aber anyway. Sport kräftigt Körper und Psyche. Ist so. Erst recht in fröhlicher Gesellschaft. Drum wird das Klingersche Mammut wieder in Joggingschuhen durch Zürich stampfen, sobald die Eiszeit vorbei ist. Oder sonst was machen. Also, wer kommt mit?

It’s Destiny’s Path.

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208Aus Italien, Österreich und Frankreich sind sie angereist, für eine Nacht. Ärzte, Coiffeusen, Bauführer, Verkäufer, Juristinnen, Informatiker, Rechte und Linke, die sich freuen, einander zu sehen um das Verbindende zu zelebrieren. Sie reihen sich geduldig ein, die Schlange dehnt sich aus zu einem breiten Menschenstrom. Bei Wind und Wetter harren sie aus, oft über eine Stunde, bis es an quadratischen Türstehern und –steherinnen vorbei ins vibrierend-wummernde Innere geht. Ein paar Stunden die Gedanken abschütteln, bis zum Morgengrauen, meistens auch länger. Dem Alltag entfliehen und eintauchen in sphärische Klänge, harte Bässe, bis sich der Körper von selbst bewegt, als würde er von einer höheren Macht gelenkt. Viele der Protagonisten hat man schon hundert Mal gesehen, nickt sich zu: „Wie geht’s?“, „Danke, dir?“ und dann wird getanzt. Jeder für sich und doch alle zusammen. Dekorativ platzierte Mädchen in hohen Stöckelschuhen sieht man hier kaum, cool am Tresen lehnende Jungs auch nicht. Die Liebe zum Rhythmus steht im Vordergrund, nicht das Sehen und Gesehen werden. Ohnehin bleiben viele der Augen geschlossen, um ganz im Klang aufzugehen. Die Zusammengehörigkeit wird durch das Andersartige demonstriert, tief-düster, schrill-bunt. Manche Gäste leuchten und blinken im finsteren Raum, auf dessen Nebelschwaden sich bunte Lichtkompositionen abzeichnen. Wenn der Junge, der sich ausschliesslich per Mundsteuerung fortzubewegen vermag, seinen Rollstuhl zum Tanze vor und zurück schnellen lässt, machen alle Platz. Für die übrigen zählt die ausgefeilte Beintechnik. Nicht immer nur elegant; egal – hier darf man sein. Ab und an durchbricht ein Freudenschrei aus hundert Kehlen die Melodie. Ein Klassiker wird gespielt, tausend Mal gehört, wirft nostalgische Gefühle auf. Man will das hören, immer wieder.

An eben jenem Ort trat er wie ein Geist aus dem Nebel hervor, Mitternacht war schon vorbei, es muss wohl auf die 6 Uhr früh zugegangen sein. Gross und dunkel, die Haare wirr vom Kopf abstehend. Dicke Stacheln an Hals und Armen geboten Abstand, sein Blick mit der Anziehung eines Neutronensterns drängte auf Nähe. Wir umkreisten uns wie Planeten, damals im Februar 2003 und die Monate darauf, immer wieder. Unzählige Geschichten könnte dieses Lokal erzählen, auch von Freunden, die kamen und gingen. Uwe, der stets tanzte, als wolle er Pilze mit einer Sichel schneiden. Der Kraken – jene junge Dame die sich zwischen uns zu drängen pflegte, wo sie sich wie mit Saugnäpfen an ihm festsog, zu unserer Erheiterung. Jedenfalls bis sie mir nach Jahresfrist allmählich auf die Nerven fiel. Wie zu heiss gekochte Milch überschäumte ich vor schierem Glück, das uns im Wunderland umschloss. Es hätte mich nicht gekümmert tot umzufallen im Taumel des Hochgefühls. Oder in den Abgründen des Kummers, als er mir aus dem Weg ging, zwischen den Etagen des Lokals. Die Begegnungen hatten sich etabliert und eine Verbindlichkeit angenommen, die sich wie eine Schlinge um seinen Hals zurrte. Also befreite er sich. Schliesslich scharte er eine Gruppe scharrender Blondinen um sich – Bachelor im Kleinformat, und ich tanzte mit meinem neuen Freund. Hin und her, auf und ab. Und dann haben wir doch geheiratet.

Nun also wird das Oxa geschlossen. Der Baum, unter dem wir uns zum ersten Mal geküsst haben, wird gefällt. Das Kapitel wird geschlossen, so wie auch Liebe kommt und geht, selbst wenn wir damals dachten, es gehe für immer so weiter. Jener, den man geheiratet hat, nimmt stets einen speziellen Platz in der Erinnerung ein, und das gilt auch für den Ort, an dem alles begann. Selbst wenn längst neues Wasser durchs Flussbett fliesst. Auf Facebook nun klagen Gruppen wie „Heimatlose Raver suchen einen Club in ZH“ ihr Leid und auch der Zürcher Tagesanzeiger würzt seinen Artikel dazu mit einer Prise Wehmut. Die Tickets für die Closing-Party sind fast ausverkauft (aber ich hab drei davon, haha!). Dann verschwindet ein Andenken in der Versenkung. Und vielleicht ist das auch gut so, denn die alten Zeiten sind vorbei und werden nie mehr die selben sein. Sind es schon jetzt nicht mehr. Wo etwas zu Ende geht, kann Neues wachsen – wer weiss, vielleicht leuchtender als zuvor, und sei es auch im Kleinen?

http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/Das-Oxa-schliesst/story/25470330

http://ch.tilllate.com/de/story/oxa-nachzug?ref=20min-story

Wider das Vorurteil.

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urteil„Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Aristoteles.

Sein fester Schritt stampfte über den Boden. Ich fühlte mich wie von einem Windstoss erfasst, wenn er funkensprühend vorbei fegte. Seine kräftige Stimme füllte den Raum, nicht selten begleitet von einem Lachen, das tief aus dem Bauch die Luft zum Vibrieren brachte. Der Mann versprühte Dynamik und Energie. Sein Blick aus engen Pupillen drohte mich zu durchbohren, wenn er in siegessicherem Lächeln seine Zähne entblösste und mit ballmaschinenartig vorgetragenen Fragen das verbale Duell eröffnete, immer hart an der Grenze zur Unverschämtheit. Stark und unaufhaltsam wie das Wasser eines Tsunamis schien er sich vorwärts zu schieben und über mich hereinzubrechen. Mit der Zeit, da ich ihn näher kennenlernte, zeigte sich Stück um Stück ein neues Bild. Die schillernde Schale brach da und dort auf, offenbarte einen sensiblen Kern; einen nachdenklichen Menschen, der nach Antworten sucht, nach einer höheren Wahrheit. Einen, der sich in der Stille, in zarten, leisen Tönen wohl fühlt. Einen, der bisweilen unsicher ist und Anerkennung sucht, so wie das jeder und jede von uns tut. Ich habe mir zig Mal ein Urteil über ihn gebildet, hätte ihn hundert Mal an die Wand schlagen können und habe ihn ebenso oft auf ein Podest gestellt. So viele verschiedene Facetten und Gott weiss, ich kenne ihn noch immer nicht.

Mich kennen die Leute bisweilen, ohne je ein Wort mit mir gesprochen zu haben. „Weisst du, ich bin ein Hobbypsychologe“, meint irgendein Kerl vor mir mit selbstgefälligem Grinsen, „du bist so eine, die gut ins Pascha passen würde – ein bisschen Luxus und gut situierte Typen“. Die analytischen Eigenschaften des Hobbypsychologen reichen genau bis zu meinem geschminktem Gesicht. Wie so oft. Eine Armee von selbst ernannten Freuds übersät unseren Planeten, stolz auf ihre Fähigkeit, Menschen in eine Schublade zu stecken. Das nennen sie dann psychologischen Schwach-, pardon, Scharfsinn. In Wikipedia lässt sich zum Begriff „Vorurteil“ lesen: „Es ist eine meist wenig reflektierte Meinung – ohne verstandesgemäße Würdigung aller relevanten Eigenschaften eines Sachverhaltes oder einer Person“. Werten, Abwerten – wie oft hab ich‘s schon getan, tue es noch, völlig unbewusst. Wo ist die Grenze, was ist erlaubt? Klar, es käme mir nicht in den Sinn, über den Obdachlosen zu richten, der mit seinem Bier in der Hand am Stauffacher auf dem Bänkli sitzt. Gott weiss, was er erlebt hat, wie es dazu kam, und was der Mann tagtäglich übersteht. Aber was ist mit der blöden Gumsel, die meiner Freundin im Büro das Leben zur Hölle macht? Was wiegt stärker, die Loyalität zur Freundin oder der Anspruch, keinen Stab über andere zu brechen? Was ist mit den kleingeistigen, scheinheiligen, selbstgerechten, menschenverachtenden… ich finde sicher noch ein paar Adjektive, ich spür schon so ein Würgen im Hals – jene, die ich verurteile, weil sie verurteilen?

Manche Menschen fühlen sich überlegen, weil sie eine bestimmte Kleidermarke tragen. Manche, weil sie die „richtige“ Musik hören oder die „falsche“ eben nicht. Weil sie den richtigen Fussballklub unterstützen. Weil sie diese Literatur lesen, aber jene Zeitung nicht. Weil sie schön sind, als ob das ein Verdienst wäre. Wegen ihres grossen Wissens – jener Eigenschaft, die in der Zukunft am leichtesten durch künstliche Intelligenz ersetzt werden kann. Sobald es um Politik oder Religion geht, sind die Leute dann auch gerne mal bereit, jedem den Kopf einzuschlagen, der die eigene Meinung nicht teilt. Soviel Überheblichkeit und Intoleranz find ich persönlich ziemlich unterbelichtet – zack, ein Urteil, wie Agent Orange im Rundumschlag über den Grossteil des Menschenwalds gesprüht.

„Man“ tut das nicht und da geht „man“ auch nicht hin. Der Arsch der Frau da vorne ist zu dick für das enge Kleid. Wir wissen das, wir sind vom Ordnungsamt zur Regelung einheitlicher Arschgrössen. Leggins sind out, Grün ebenfalls, Grau ist eh schöner. Aber bitte nicht im Mustermix. Wer Ziegelsteine vom Dach wirft, verdient nicht zu leben. Albaner sind, ebenso wie die Türken… und Aargauer sowieso. Von den Zürchern wollen wir schon gar nicht erst reden. Wir sind hochintellektuell, aber das könnt ihr freilich nicht beurteilen, dazu ist euer Geist zu unterkomplex. Die ist billig, der arrogant, Schlampe, Spiesser, Koksnase, und jener mit der Brille, also da hab ich von Anfang an gemerkt, dass der irgendwie suspekt ist. Schau mal, der guckt schon so komisch.

Ein Blickwinkel wie ein Röhrchen in einem grossen Krug Panaché. Zielorientiert saugen wir den Zitronensirup vom Boden des Glases und verkünden, Panaché inskünftig zu meiden. Es schmeckt einfach zu säuerlich.

Wer zu wissen glaubt, (hinter)fragt nicht. Wer nicht fragt, lernt nichts dazu.

Mach mal „Aaaah“.

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gebissGrell brennt die Lampe in mein Gesicht, das gleissende Licht bohrt sich in meine Augen. Nein, ich habe nichts verbrochen, und würde man mich hier einem Verhör unterziehen, ich würde kein Wort sagen. Ich kann nämlich nicht. Man hat mich mit einer Maulsperre und einer Art Gesichtskondom lahmgelegt. Der Mann über mir fixiert mich mit seinem Blick, und doch bleiben mir die Fenster zu seiner Seele verschlossen. Ich wähnte mich als stolze Siegerin, als wir neulich im Büro die Bilder unserer Zahnärzte verglichen und darüber debattiert hatten, welcher wohl der Schönste sei. Heute nützt mir das herzlich wenig, denn er versteckt seine Augen hinter einer Lupenbrille und studiert konzentriert meine Zähne.

Spritzen mit furchterregender Nadel, brachial in das Zahnfleisch gerammt; das war einmal. Gut, zu früheren Zeiten gab es überhaupt keine Betäubung. Was sind wir für Weicheier, heutzutage. Seit neuestem pieksen winzig kleine Nadeln ihre narkotisierende Fracht ins zarte Fleisch, kaum spürbar. Einiges angenehmer als von einer Ameise gebissen zu werden. Martin Horat lebt also wesentlich risikoreicher und die Ameisen ebenfalls. Beim Zahnarzt indes wird die Drogendosis von einer Maschine kontrolliert, die laute Geräusche von sich gibt. Es klingt, als spiele eine Steel Drum Band im Hintergrund. Sowie sich mein Mund anfühlt wie ein gut gegartes Suppenhuhn, hisst der Zahnarzt die Segel: Kofferdam – ein Name wie ein holländischer Fluch. Unter diesem blauen Gummi werde ich soeben beerdigt. Der Bohrer schrillt durch Mark und Bein. Schlimmer als Heidi Klum, wenn sie quiekt; „meine Frisur hält das aus!“. Der Speichel tropft mir ungehindert die Kehle runter. Würde man es wohl in der Zeitung lesen, wenn jemand auf dem Zahnarztstuhl erstickt? Ich schätze, so fühlt man sich mit Knebelball im Mund. Ob sich unter den Zahnärzten potenziell vermehrt Sadisten finden? Falls ja, sind sie gut getarnt. Meine waren immer sehr nett. Ich würde jetzt gerne einfach die Augen schliessen. Einst bin ich schon mal auf dem Zahnarztstuhl fast eingeschlafen. Das Blöde ist nur: Der Zahnarzt gerät in Panik, denkt, die Patientin sei bewusstlos. Also blinzle ich immer wieder mal. Ich will ihm ja nicht Angst machen.

Nun pinselt er etwas auf meine Zähne. „Haben Sie’s gemerkt? Es riecht nach grünem Apfel“. In seiner Stimme schwingt Stolz mit, die Geschmacksnote muss neu sein. Ich habe Hunger, würde ihn gerne fragen, ob’s das Zeug auch mit Pizza-Flavour gibt. Bloss – ich kann ja nicht sprechen, kofferdam nochmal. Er feilt hier noch etwas, wurstelt da mit lautstarker Gerätschaft in meinem Mund herum, erteilt seiner Assistentin kryptische Instruktionen. „Sie haben es gleich geschafft“, beruhigt er mich. Nach einigen weiteren Minuten, mein Kiefer schmerzt allmählich, stellt er mir den Stuhl hoch. Wann will er mir wohl dieses blöde blaue Gummizeugs aus dem Mund…? „Oh!“, bricht es aus ihm hinaus, „Sie haben ja noch den Kofferdam…“. Der Stuhl fährt wieder runter. „Das ist mir auch noch nie passiert“, schüttelt er den Kopf, und befreit mich endlich von meinem Maulkorb. „Leider ist nicht Halloween“, nicke ich, „sonst hätte ich so gleich weiter können“. „Danke für die erneute Folter“, versuche ich ein schiefes Lächeln. Hat auch gar nicht weh gemacht. Das wird es erst noch – wenn die Rechnung kommt.  

Ein Nekrolog.

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kuhstall

Die letzte Ruhestätte.

Im Gedränge der Menschenmenge

hab ich dich zuletzt gesichtet.

Oh, wie vermiss ich deine Klänge

doch es scheint, du bist vernichtet.

——

Wie eine Horde wilde Paviane,

sind wir im Kreis herum gesprungen.

Dabei bist du, wie ich ahne,

zu Bruch gegangen und verklungen.

——

Ich liess den Blick zu Boden gleiten,

nichts – hab gleich die Swisscom kontaktiert.

„Sie erreichen uns fernab der Öffnungszeiten“

hat mich ne Stimme informiert.

——

„Du musst die 0041 wählen“,

sprach der Deutsche neben mir.

Muss ich mich noch mit Details quälen?

„Guete Abig, Swisscom hier“.

——

Wir feierten Sylvesternacht,

es floss der Sekt durch meine Adern,

bin anderntags bald aufgewacht,

und fing gleich an, mit mir zu hadern.

——

Lookout war auf dem Gerät,

warum hab ich nicht dran gedacht?

Will dich orten, s’ist zu spät,

wurdest vollends umgebracht.

——

Hab meinen Freunden etwas mitzuteilen,

am anderen Ortsende untergebracht,

muss zu ihnen rübereilen,

was mich etwas grimmig macht.

——

Die Sorge gilt vor allen Dingen,

nicht dem verlor’nen Geld,

Worte, die Sonne in mein Dasein bringen,

sind es, was mir wirklich fehlt.

——

Erster Jänner, die Läden geschlossen,

kein Wecker, zur Aussenwelt keinen Kontakt,

Ich fühle mich irgendwie erschossen,

und kann’s nicht ändern, s’ist vertrackt.

——

Geh ich auf der Piste verloren,

ohne Handy unter den Massen,

findet man meine Gebeine erfroren,

und wird mein Gebiss identifizieren lassen.

——

Werd nicht dein Piepen nur vermissen

hör’s als Phantompiep immer wieder

hast mit dir in den Tod gerissen,

alle meine Lieblingslieder.

——

Am Zweiten wollt ich ein Prepaid kaufen,

„die kriegen wir derzeit nicht rein“;

es ist doch einfach zum Haare raufen,

oh je, oh je, ich armes Schwein.

——

Kann mich auch nicht wecken lassen,

der war im Handy integriert,

werd wohl noch den Zug verpassen,

der mich schliesslich nach Hause führt.